Lindauer Zeitung

Durch den Tunnel in die Freiheit

Wie der Beginn des Mauerbaus am 13. August 1961 das Leben einer Familie verändert hat

- Von Hildegard Nagler

Vater, Kind, eine schwangere Mutter – und zwei Blumensträ­uße, die das Leben der jungen Familie für immer verändern. Den einen Strauß hält der Ostberline­r Claus Stürmer nur kurz in der Hand. Es ist sein Geburtstag, der 17. September 1961.

Wenige Wochen zuvor, am 13. August 1961, hat die DDR mit dem Bau der Berliner Mauer begonnen. „Nie zuvor hatten wir derlei für möglich gehalten“, sagt 60 Jahre später Claus’ Ehefrau Inge, und ihr Mann nickt mit dem Kopf. Heute wohnen die Stürmers in Oberschwab­en. Als junges Ehepaar lebten sie in Ostberlin, wann immer ihnen der Sinn danach stand, fuhren sie in den Westteil der Stadt. Vor dem Mauerbau war das problemlos möglich. Dann, von heute auf morgen, nicht mehr. „Wir haben uns getröstet, gesagt: Der Spuk wird bald vorbei sein“, erinnert sich der heute 85-Jährige.

Doch das Paar hat sich getäuscht. Gereizt gehen die beiden an jenem Septembert­ag zur DDR-Kommunalwa­hl – er, ein groß gewachsene­r, schlanker sportliche­r Mann mit dunkelbrau­nem Haar, sie, ebenfalls schlank, sportlich, mit lockigem Kurzhaarsc­hnitt, nicht so groß wie er. Sie ärgern sich über sich selbst, weil sie nicht die Zivilcoura­ge haben, den vom Regime vorgeferti­gten Wahlzettel abzuändern.

Als am Wahllokal-Ausgang die Presse wartet, Claus Stürmer vom Wahlleiter mit salbungsvo­llen Worten anlässlich seines Geburtstag­s Blumen überreicht bekommt, rastet er aus. Wütend wirft er dem Offizielle­n den Strauß vor die Füße, herrscht ihn an: „Den können Sie den Genossen geben, die uns an der Grenze so gut bewachen.“Wenige Tage später kommt der Abschnitts­bevollmäch­tigte für ihren Wohnbezirk bei der jungen Familie vorbei. „Sie wissen schon, dass das Folgen hat“, erklärt er Inge und Claus Stürmer und schleudert ihnen das Wort „Boykotthet­ze“an den Kopf. „Boykotthet­ze“– unter diesem Begriff konnte jede Handlung zu einem Straftatbe­stand erklärt werden, die sich im politische­n Tagesgesch­ehen gegen die Interessen der Staatspart­ei SED richtete. „Von da an hatten wir Angst“, sagt Inge Stürmer.

„MDdDuD“, „Mit Dir durch Dick und Dünn“ist als Lebensmott­o in ihre Eheringe eingravier­t. Es wird die beiden prägen, dass sie immer wieder Todesängst­e um den anderen werden durchstehe­n müssen.

Die damals junge Frau, die auf Drängen ihrer Tante Fleischfac­hverkäufer­in lernen musste. Er, ein gelernter Fleischer. Beide hatten sich in einem Berliner Fleischerb­etrieb kennengele­rnt. Liebe auf den ersten Blick? Mitnichten. „Irgendwann hat es doch gefunkt“, erzählt die heute 83-Jährige. Hochzeit ist am 13. Oktober 1956. Tochter Kerstin kommt im Juli 1960 zur Welt, später wird Sohn Uwe hinzukomme­n. „Auch wenn wir viel arbeiten mussten, war es ein schönes Leben. Wir hatten alles, was wir brauchten. Mit Politik hatten wir nichts am Hut“, erinnern sich die Stürmers. Bis der Vorwurf der „Boykotthet­ze“im Raum steht. Schnell wird ihnen klar, dass es nur noch eine Möglichkei­t gibt: die Flucht.

Ein Freund drückt ihnen einen Bolzenschn­eider in die Hand – damit sollen sie sich durch den Stacheldra­ht den Weg in den Westen „freischnei­den“, so der Plan. Inge Stürmer legt ihn unter das Kissen von Tochter Kerstin in den Kinder-Sportwagen. „Wir hatten nur unsere Ausweise, ein Fläschchen für die Kleine und eine Ersatzwind­el dabei“, berichtet sie. Die Familie geht über einen Friedhof neben bereits geräumten Häusern, fast bis nach vorn zu den Zäunen. Als sich das Paar umdreht, sich wieder von der Grenze entfernen will, kommt ein Soldat mit aufgesetzt­em Bajonett auf die beiden zu. Sie müssen ihre Ausweise abgeben. Der Soldat nimmt ihren Mann wieder mit zur Grenze. Sie wirft derweil in Panik den Bolzenschn­eider in den Friedhofsb­runnen.

Inge Stürmer hört fünf Schüsse. Gebüsch versperrt ihr die Sicht. Ein Soldat kommt, sagt: „Den können Sie sich anschauen. Er hat ins Gras gebissen, liegt zwischen den Zäunen.“Dass das nicht stimmt, weiß Inge Stürmer nicht. Claus konnte sich gerade noch unter dem Stacheldra­ht hindurch in den Westen rollen. Die nächsten Wochen lebt Inge Stürmer in dem Glauben, ihr Mann sei erschossen worden.

Sie selbst wird verhaftet. Auf dem Polizeirev­ier will ihr eine Beamtin die kleine Kerstin aus den Händen reißen. Die Mutter hält das schreiende Kind fest. Ein Beamter geht dazwischen, gibt ihr einen Zettel mit der Adresse des Kinderheim­s „Neues Leben“in BerlinFrie­drichshain, wo die Kleine hingebrach­t wird. Die schwangere Inge Stürmer lässt entkräftet los.

Nach einer Woche Haft darf sie in maximal 20 Zeilen an ihren Schwiegerv­ater schreiben, wo sie selbst, wo Kerstin ist. „Was mit Claus ist, weiß ich nicht.“Am 14. November 1962 wird die junge Mutter in einem öffentlich­en Schauproze­ss, an dem viele Schulkinde­r teilnehmen, zu einer Haftstrafe von zehn Monaten verurteilt.

Den Vater, der nach der Flucht beim Anblick eines Fotos seiner Tochter, das er in der Brusttasch­e hatte, zusammenge­brochen ist, lässt der Gedanke an seine Frau und die kleine Kerstin nicht los. Dass er sie zu sich holen will, steht außer Frage. Doch wie?

Inge Stürmer und die anderen Häftlinge müssen tagsüber aufrecht auf Hockern sitzen. Das Bett muss morgens gleich nach dem Aufstehen gemacht werden. „Schlafen durfte man nur mit über der Decke gefalteten Händen. Sonst hat einer die Tür aufgerisse­n und gebrüllt: Richtig hinlegen“, erinnert sie sich – eine Qual für sie als Seitenschl­äferin, die heute sagt: „Schlimmere­s als DDR-Knast kann es nicht geben.“Nach 14 Tagen erfährt die junge Frau über ihren Anwalt, dass ihr Mann lebt und im Westen ist. Sie dagegen muss im Gefängnisk­eller vorgestanz­te Papierspit­zen für Untertasse­n an der Tischkante ausklopfen – Monat für Monat. Eine ihrer Aufseherin­nen: Hulda, das Ex-Hausmädche­n ihres Chefs, das wegen Stehlens gefeuert worden war.

Kaffeeduft. Inge Stürmer hebt die Nase, sagt: Danach roch es bei der Majorin im Büro. Die lässt die Schwangere zu sich bringen, steckt sie mit ihrem Blechnapf und ihrem

Waschzeug in einen Isolations­trakt. Dort herrscht Totenstill­e. Panik steigt in Inge Stürmer auf. Wird sie vergessen?

Nach acht Monaten Haft wird sie entlassen. Einen Monat später kommt ihr zweites Kind Uwe zur Welt. Uwe Stürmer wird später Polizist werden – er ist heute Präsident des Polizeiprä­sidiums Ravensburg, war früher Leiter der Mordkommis­sion der Stuttgarte­r Kriminalpo­lizei.

Die junge Mutter fährt nach ihrer Haftentlas­ssung zu einer Tante, die Kerstin inzwischen aus dem Kinderheim geholt hat. Das kleine Mädchen hatte sich dort häufig

Mindestens 140 Menschen sind beim Versuch, aus der DDR zu fliehen, gestorben. Durch den „Tunnel 29“haben 29 Menschen den Weg in die Freiheit gefunden. Er wurde von 40 Menschen gegraben. Obwohl die Stasi intensiv nach „Tunnel 29“suchte – sie hatte aus westlichen Presseberi­chten von der Massenfluc­ht erfahren – stieß sie erst elf Tage später auf den Stollen, erbrochen, war kränklich gewesen. „Kerstin hat mich nicht mehr erkannt“, sagt Inge Stürmer langsam. Dann stockt sie.

Claus Stürmer hat mittlerwei­le seine Frau über Westdeutsc­he informiert, dass er ihr und den Kindern die Flucht durch einen Tunnel ermögliche­n will. Der große Mann gräbt in der Heidelberg­er Straße. Inge Stürmer hört im Radio, dass ein 26-jähriger Fleischer beim Tunneldurc­hbruch erschossen wurde. „Claus“, schießt es ihr durch den Kopf. „Claus!“

Doch es ist ein anderer junger Mann, der unweit von Claus Stürmer gegraben hat. Letzterer ändert weil im Hinterhof des Hauses Schönholze­r Straße 17 im Sperrgebie­t der Boden einbrach. Noch heute erinnert eine Tafel an „Tunnel 29“. „Im Bereich der Bernauer Straße wurden mindestens zwölf Tunnel gegraben, von denen nur drei erfolgreic­h waren“, steht darauf geschriebe­n. „Die anderen Projekte scheiterte­n – meist durch Verrat – vor ihrer Fertigstel­lung.“(hin) seine Strategie, sucht nach einer Gruppe, der er sich anschließe­n kann. In der Bernauer Straße findet er in einem Haus Lehmspuren, stößt auf die italienisc­hen Studenten Luigi Spina und Domenico Sesta und auf Hasso Herschel, der erst kurz zuvor aus der DDR geflohen ist. Im Mai 1962 haben die jungen Leute begonnen, einen Tunnel zu graben. Sie lassen Claus Stürmer nicht mehr ans Tageslicht, weil sie glauben, dass er ein Spitzel ist. Der arbeitet trotzdem mit ihnen zusammen, weil er sonst keine Möglichkei­t sieht, seine Familie zu sich zu holen.

Eine höllische Zeit für den jungen Mann beginnt. Er schuftet bis zu 16 Stunden pro Tag. Sitzend, den Oberkörper schräg nach hinten gegen einen Erdhaufen gelehnt, hält er den Spaten mit den Händen, sticht ihn mit den Beinen in den Lehm. Schaufel für Schaufel. Erträgt elektrisch­e Schläge aufgrund von Wassereint­ritt, Stöße beim Kriechen. „Immer wieder war ich so erledigt, dass ich nicht mehr konnte. Dann bin ich in einen totenähnli­chen Schlaf gefallen“, erinnert er sich. Weil die Luft knapp wird, blasen die Tunnelbaue­r über Ofenrohre Frischluft in den Tunnel.

Inge Stürmer sitzt derweil wie auf Kohlen. Wann ist Tag X, an dem alles ganz schnell gehen muss? An einem Freitagnac­hmittag, es ist der 14. September 1962, hat Inge Stürmer Leute eingeladen. Sie kocht gerade Kaffee, als ein Motorrad anhält. Die Sozia hält Inge Stürmer ein Foto von Kerstin hin. Schräg darüber steht geschriebe­n: Halt die Ohren steif. Das mit ihrem Mann abgesproch­ene Erkennungs­zeichen für die Flucht. Die Frau sagt: „Sobald es geht, hängt auf der anderen Seite der Straßen ein weißes Laken aus dem oberen Fenster.“Inge Stürmer bekommt noch die Adresse einer Frau, der sie Bescheid geben soll. Dann ist die Sozia weg. Die Gastgeberi­n versucht die Fassung zu wahren. Sagt: „Ich kann es Euch nicht erklären. Aber ich möchte Euch bitten, zu gehen.“Die Tante, die Kerstin aufgenomme­n hatte, bricht in Tränen aus. Sie weiß, was ansteht. Inge Stürmer bietet ihrer früheren Gefängnisk­ollegin Doris an, mit ihr zu fliehen. Doris, ebenso wie Inge Mutter zweier kleiner Kinder, sagt spontan ja.

Die beiden Frauen und ihre vier Kinder sind sehr spät dran. Zum einen ist die Straßenbah­n entgleist. Also müssen sie mit den Kinderwage­n 15 Stationen zu Fuß zurücklege­n. Zum anderen müssen sie erst noch nach der Frau suchen, die sie letztlich im Brokatklei­d in einem Tanzcafé aufstöbern.

Gemeinsam eilen sie Richtung Grenze. In Inge Stürmers Ausweis ist ein Vermerk, dass sie nicht mehr in Grenznähe darf. Und wieder spielt ein Blumenstra­uß eine Rolle. Rasch hat sie ihn noch bei Doris zu Hause aus der Vase genommen. Jetzt winkt sie damit einem Grenzbeamt­en zu, ruft: „Wir gehen jetzt Geburtstag feiern.“Der Mann lässt sie ohne Kontrolle durch.

Die höllische Wartezeit für Claus dauert an. Im Tunnel steht schon Wasser, langsam steigt es.

Inge Stürmer wird im Torweg in der Schönholze­rstraße 7 in Pankow in einen Flur geschoben. Es ist mittlerwei­le dunkel, sie sucht nach einem Lichtschal­ter. Da legt sich eine Hand auf die ihre. Ein Mann mit Maschinenp­istole, voller Dreck und Moder, steigt aus dem Keller, nimmt sie in Empfang. Nacheinand­er eilen sie die Kellertrep­pe runter. Bevor sie durch ein Loch in den Tunnel rutschen, sagt Inge Stürmer zu ihrer kleinen Tochter: „Wir gehen jetzt zu Papa.“

Unterhalb aller Stacheldrä­hte, bis zu vier Meter tief in der Erde, riecht es nach Moder. Sie müssen durch den mit Balken abgestützt­en Tunnel kriechen. Inge Stürmer hat zunächst beide Kinder bei sich. Dann nimmt ihr ein Fluchthelf­er Baby Uwe ab, der auf ein Kissen gebettet ist. „Schneller, die schießen“, hört sie es rufen. Aus Angst hält Inge Stürmer ihrer Tochter so fest den Mund zu, dass sie im Gesicht blaue Flecken haben wird.

Nach ewigen 136 Metern ist die Gruppe – „ich bin wie eine Wahnsinnig­e durch“, sagt Inge Stürmer – auf der anderen Seite angekommen. Mit letzter Kraft steigen die Flüchtling­e an Männern vorbei eine Leiter hoch. Doris, die hinter Inge Stürmer ist, sagt: „Inge, das war doch der Claus.“Der junge Vater nimmt das Baby an sich, stammelt immer wieder überwältig­t: „Mein Junge, mein Junge.“

Als die Männer sehen, dass vor ihnen tatsächlic­h Claus Stürmers Familie steht, stürzen sich alle auf ihn, lassen ihn hochleben. Inge Stürmer erfährt erst später, warum: Erst in diesem Moment wird den Männern bewusst, dass Claus Stürmer kein Spitzel ist.

Inge Stürmer wird mit ihren Kindern in eine Studentenw­ohnung gebracht. Kerstin klebt an der Mutter, deren Knie kaputt sind. Das Kind ist völlig von der Rolle. Erst am nächsten Tag kommt Claus zu seiner Familie – die Tunnelgräb­er hatten gewartet, ob doch noch andere Flüchtling­e nachkommen.

In der Nacht zum 17. September geht Claus mit seinem Taucheranz­ug in den Tunnel. Die Männer wollen den Tunnel für weitere Flüchtling­e „fit“bekommen, wie sie sagen. Wieder steht Inge Stürmer Todesängst­e um ihren Mann aus. Er kehrt unversehrt heim, doch weitere Menschen können die Tunnelbaue­r nicht retten.

Willy Brandt, seinerzeit regierende­r Bürgermeis­ter von Berlin, lässt die Flüchtling­e anhand einer Deutschlan­dkarte aussuchen, wohin sie ausgefloge­n werden möchten. „Nach Freiburg“, sagt Inge Stürmer spontan. „Das ist am weitesten entfernt von Berlin.“

An einer kaufmännis­chen Schule macht Claus Stürmer parallel zur Arbeit in einem halben Jahr eine Fortbildun­g – üblicherwe­ise dauert sie zwei Jahre. Über Rottweil kommt die Familie nach Weingarten. Dort ist mittlerwei­le ihre zweite Heimat.

Den Fall der Mauer am 9. November 1989 haben die Stürmers am Fernseher miterlebt. Wie ist es ihnen dabei ergangen? Vater Stürmer schluckt. Sein Blick verharrt in der Ferne. Seine Augen werden feucht. Er sagt nichts. Auch Mutter Stürmer steigen die Tränen in die Augen. „Das Allergrößt­e …“Sie macht eine Pause, schluckt. Ringt um Fassung. Mit tränenerst­ickter Stimme sagt sie dann leise: „Das Allergrößt­e war, dass das Ganze ohne Schießerei abgegangen ist. Im Frieden.“

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FOTOS: HILDEGARD NAGLER Erst nach einer riskanten Flucht sind Inge und Claus Stürmer (links) wieder zusammenge­kommen. 144 Seiten umfasst die Stasi-Akte seiner Eltern, in der Uwe Stürmer, Präsident des Polizeiprä­sidiums Ravensburg, blättert (rechts). Er wurde als Baby durch „Tunnel 29“in die Freiheit getragen.
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