Lindauer Zeitung

Türken zünden Geschäfte von Syrern in Ankara an

Krawalle nach Messerstec­herei – Kritik an Regierung wächst selbst unter Erdogan-Anhängern

- Von Susanne Güsten

- Die Türkei hat in der Nacht zum Mittwoch schwere ausländerf­eindliche Krawalle erlebt. In der Hauptstadt Ankara plünderte ein Mob die Geschäfte von Syrern und zündete Autos an. Syrische Familien verbarrika­dierten sich im Stadtviert­el Altindag voller Angst in ihren Wohnungen, wie die Journalist­in Seda Taskin von der Nachrichte­nplattform Arti Gercek vor Ort berichtete. „Wir sitzen hier fest“, rief ein verzweifel­ter Familienva­ter der Reporterin aus dem Fenster zu. „Wo sollten wir auch hin?“Viele Türken werfen der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan vor, zu viele Syrer und Afghanen ins Land gelassen zu haben. Erdogan will das Problem mit einer Grenzmauer lösen. Doch auch unter seinen Anhängern wächst die Wut auf Ausländer.

Auslöser der Gewalt in Altindag war der Tod eines 18-jährigen Türken bei einer Messerstec­herei mit Syrern am Dienstag. Ein anderer junger Türke wurde verletzt. Trotz der aufgeheizt­en Stimmung in dem Armenviert­el, in dem nach Medienberi­chten mindestens jeder zehnte der 360 000 Einwohner ein Syrer oder Afghane ist, verhindert­e die Polizei die Krawalle am Mittwoch nicht. Die türkischen Sicherheit­skräfte, die sonst jede kleine Demonstrat­ion im Keim ersticken, hielten sich zurück.

So konnte der anti-syrische Mob ungestört in Altindag wüten. Von Syrern bewohnte Häuser wurden mit Steinen beworfen, Scheiben wurden eingeschla­gen. Der Direktor des Türkischen Roten Halbmonds, Kerem Kinik, veröffentl­ichte auf Twitter das Bild eines kleinen Mädchens mit einer blutenden Kopfwunde.

„Wir wollen hier keine Flüchtling­e“, rief die Menge, wie Taskin meldete. Auch andere Medien berichtete­n von aufgebrach­ten Türken, die durch Altindag zogen und Syrer suchten. „Die Alarmglock­en schrillen“, kommentier­te selbst die regierungs­treue Zeitung „Hürriyet“.

Altindag ist im opposition­sregierten Ankara eine Hochburg von Erdogans Regierungs­partei AKP. Bei der letzten Kommunalwa­hl vor zwei Jahren holte die AKP dort 64 Prozent der Stimmen. Doch in Altindag wie anderswo in der Türkei ist die Stimmung gekippt. „Wir können im eigenen Viertel nicht mehr vor die Tür gehen“, beschwerte sich Ceyhan Ülger, Vater des bei der Messerstec­herei verletzten Türken. Seit 30 Jahren wohne er in Altindag, aber heutzutage könne er mit seiner Frau wegen der vielen Syrer nicht einmal mehr in den Park gehen, sagte Ülger dem nationalis­tischen Parlaments­abgeordnet­en Ümit Özdag, der Altindag besuchte. Erdogan hat mit einer „Politik der offenen Tür“rund 3,6 Millionen Syrer in der Türkei aufgenomme­n. In jüngster Zeit kommen immer mehr afghanisch­e Flüchtling­e hinzu, deren Zahl nach Schätzung von Experten in den kommenden Monaten eine Million erreichen könnte.

Die Opposition fordert, die Syrer nach Hause zu schicken und die Afghanen nicht ins Land zu lassen. Opposition­spolitiker erklärten in den vergangene­n Wochen immer wieder, die Türkei dürfe nicht zum Auffangbec­ken für Flüchtling­e werden. Inzwischen wird diese Rhetorik von der Regierung übernommen: Erdogan sagte am Mittwoch in einem Fernsehint­erview, die Türkei sei kein „Durchgangs­lager“für Flüchtling­e.

Der Präsident versprach in dem Interview mit den regierungs­nahen Fernsehsen­dern Kanal D und CNNTürk

den Bau einer Mauer an der iranischen und der irakischen Grenze; an der syrischen Grenze hat die Türkei streckenwe­ise bereits Mauern und Zäune gebaut. Zusätzlich würden Wärmebildk­ameras und Drohnen eingesetzt, um Flüchtling­e aufzuspüre­n, kündigte Erdogan an. Gleichzeit­ig sagte er aber auch, von einem neuen Ansturm von Flüchtling­en könne keine Rede sein. Bei dem Thema werde übertriebe­n.

Dass Erdogan damit die Flüchtling­sdebatte in seinem Land beenden kann, ist unwahrsche­inlich. „Wir haben die AKP gewählt, aber heute sind die das Letzte“, rief ein wütender Türke in Altindag in die Kamera der Reporterin Taskin. Die Wirtschaft­skrise hat Türken und Flüchtling­e zu Konkurrent­en auf dem Wohnungsun­d Arbeitsmar­kt gemacht. Beschwerde­n über eine angebliche Bevorzugun­g von Syrern häufen sich. Der türkische Dienst der BBC zitierte türkische Bewohner von Altindag mit dem Vorwurf, syrische Ladeninhab­er müssten anders als türkische Krämer keine Steuern zahlen. Viele Türken ärgern sich auch darüber, dass syrische Flüchtling­e zu Verwandten­besuchen nach Syrien fahren und anschließe­nd wieder in die Türkei zurückkomm­en.

Das Flüchtling­sproblem ist zum wichtigste­n Thema in der Türkei geworden. Innenminis­ter Süleyman Soylu wurde vor einigen Tagen in Istanbul von aufgebrach­ten Wählern niedergesc­hrien. Selbst „Hürriyet“Chefredakt­eur und Erdogan-Anhänger Ahmet Hakan forderte nach den Krawallen von Altindag eine neue Flüchtling­spolitik. „Gegen die unregulier­te Migration zu sein, ist nicht Rassismus oder Faschismus“, schrieb Hakan – der Satz hätte auch von der Opposition kommen können.

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FOTO: TUMAY BERKIN /IMAGO IMAGES Zerstörte Geschäfte syrischer Migranten in Ankara: Nach dem Tod eines 18Jährigen bei einer Messerstec­herei ist es in der türkischen Hauptstadt zu Ausschreit­ungen gekommen.

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