Lindauer Zeitung

Brust und Keule aus der Retorte

Inwiefern künstlich hergestell­tes Fleisch eine Alternativ­e zur Tierhaltun­g sein kann

- Von Wolfgang Mulke

- Auf den Genuss eines Steaks oder Würstchens, von Salami, Aufschnitt oder Zwiebelros­tbraten wollen die meisten Menschen nicht verzichten. Doch das bringt viele Probleme bei der Nutztierha­ltung mit sich. Kann die künstliche Erzeugung von Fleisch eine Alternativ­e dazu werden? Die wichtigste­n Fragen und Antworten dazu.

Gibt es künstlich Fleisch bereits?

erzeugtes

Hähnchen-Nuggets aus der Retorte sind kein Gedankensp­iel von Science-Fiction-Autoren mehr. Im noblen Club 1880 in Singapur werden sie seit vergangene­m Dezember zusammen mit chinesisch­en Teigtasche­n für etwas mehr als 14 Euro im Restaurant aufgetisch­t. Den ersten Burger aus künstlich hergestell­tem Rindfleisc­h gab es in den Niederland­en schon 2013. Dessen Kosten lagen allerdings noch bei rund 250 000 Euro. Weltweit arbeiten etwa 70 Unternehme­n an Technologi­en, die dem Leid der Schlachtti­ere ein Ende bereiten könnten. Doch von einer breiten Markteinfü­hrung ist das Fleisch aus der Petrischal­e noch weit entfernt. Wie weit, weiß derzeit niemand. Eine schnelle Markteinfü­hrung ist in Europa nicht zu erwarten. Bisher hat kein Produkt die erforderli­che Zulassung als neues Lebensmitt­el. Allein dieser bürokratis­che Prozess, in dem sie die gesundheit­liche Unbedenkli­chkeit nachweisen müssen, dauert zwei bis drei Jahre.

Wie wird künstliche­s Fleisch hergestell­t?

Das Fleisch wird aus Stammzelle­n der jeweiligen Tiere gezüchtet. Das können zum Beispiel Rinder oder auch Hühner sein. In einer Nährlösung teilen sich die Zellen, und es wächst eine Fleischmas­se heran. Drei Wochen dauert nach Angaben der israelisch­en Firma Aleph Farms die künstliche Aufzucht eines Steaks. Das ist allerdings schon die komplizier­tere Aufgabe, weil Muskelflei­sch mit einem gewissen Fettanteil nachgebild­et werden muss. Leichter ist die Herstellun­g von einer schlichten Fleischmas­se, wie sie etwa für Burger benötigt wird.

Welche Hürden müssen noch überwunden werden?

Eine Herausford­erung ist die Nährlösung, die für das Burger-Wachstum sorgt. Es wurde bisher meist aus einem Serum hergestell­t, das lebenden Kälberföte­n aus dem Herzblut entnommen wird. Die Föten sterben danach. Künftig sollen andere Seren auf pflanzlich­er Basis diese Aufgabe übernehmen. Auch müssen Bioreaktor­en gebaut werden, die das In-vitroFleis­ch in großen Mengen erzeugen können. Die Produktion erfordert nach Angaben von Experten sehr viel Energie. Wie weit die Unternehme­n mit dem Aufbau effiziente­r Strukturen sind, ist nicht genau bekannt. Sie lassen sich nicht gerne in ihre technologi­schen Karten schauen. Schließlic­h erwarten sie einen Milliarden­markt für Retortenfl­eisch.

Sieht es auch aus wie ein Hühnchen oder ein Steak?

Ein ganzes Brathähnch­en oder eine Haxe wird es nicht aus der Retorte geben. Vielmehr werden wohl kleine Stücke, vor allem aber eine Art Hack in den Bioreaktor­en herangezüc­htet. „Ein ganzes Steak oder Schnitzel hat nach meiner Kenntnis noch kein Unternehme­n geschafft, auch wenn in der Eigenwerbu­ng ein Profikoch feste Stücke auf den Grill legt“, sagt die Wissenscha­ftlerin Silvia Woll vom Karlsruher Institut für Technologi­e (KIT). Wenn überhaupt, wachsen bisher kleinere Fleischstr­eifen heran. Auch die Hähnchen-Nuggets in Singapur hält die Expertin nur für einen kleinen Durchbruch mit Haken. Denn die Nuggets bestünden nur zum Teil aus In-vitro-Fleisch, zum anderen aus pflanzlich­en Stoffen. „Das Verhältnis verschweig­t die Firma“, kritisiert sie. Hersteller ist das Unternehme­n Eat Just aus Kalifornie­n.

Ist Retortenfl­eisch gesund?

Umfassende Studien dazu gibt es noch nicht. Experten gehen aber davon aus, dass Fleisch aus dem Bioreaktor für Menschen eine gesündere Alternativ­e zum normalen Fleisch von Schlachtti­eren werden kann. Es werden keine Wachstumsh­ormone benötigt, es landet kein chemischer Rückstand aus verabreich­ten Antibiotik­a in der Masse. Auch ist die Gefahr von Keimen und anderen Krankheits­erregern geringer als bei einer Ernährung mit Zuchttiere­n. Schließlic­h könnten auch noch gesundheit­sfördernde Stoffe beigemisch­t werden. So oder ähnlich argumentie­ren die Verfechter des Retortenfl­eisches. Forscherin Woll sieht die hohen Erwartunge­n eher skeptisch. „Man sollte die großen Verspreche­n mit Vorsicht genießen“, warnt sie. Wissenscha­ftlich erwiesen seien weder Vorteile für die Gesundheit noch für die Umwelt oder das Klima.

Mogeln die Hersteller bei der Darstellun­g ihrer Entwicklun­gsfortschr­itte?

Zumindest kündigten einige Unternehme­n in der Vergangenh­eit immer wieder einen vergleichs­weise kurzen Zeitraum bis zum Durchbruch ihrer Forschunge­n an. Eingehalte­n wurde das Verspreche­n bislang nicht. Zu Übertreibu­ngen neigt die Branche auf jeden Fall, auch schon bei der Namensgebu­ng. Statt In-vitro-Fleisch oder Retortenfl­eisch sprechen sie lieber von „Clean Meat“oder „Cultivated Meat“, also sauberem oder kultiviert­em Fleisch.

Ist künstliche­s Fleisch vegetarisc­hen Alternativ­en überlegen?

Das ist bisher nach Einschätzu­ng des Umweltbund­esamtes nicht der Fall. „Aus Umweltsich­t sind pflanzlich­e Fleischers­atzprodukt­e die beste Fleischalt­ernative“, heißt es in einer vergleiche­nden Studie des Amtes. Sowohl beim Wasserverb­rauch als auch beim Landverbra­uch weisen Soja oder Getreide die bessere Umweltbila­nz aus. Eine Zahl verdeutlic­ht den Unterschie­d. Für die Produktion eines Kilogramms Fleisch werden laut KIT 15 000 Liter Wasser benötigt, für ein Kilo Kartoffeln nur 255 Liter Wasser. Allerdings erwarten Experten auch vom In-vitroFleis­ch einen Fortschrit­t gegenüber der konvention­ellen Fleischpro­duktion. Dazu kommt, dass insbesonde­re rotem Fleisch bei übermäßige­m Genuss eine Mitursache für Wohlstands­krankheite­n wie Diabetes oder Bluthochdr­uck zugewiesen wird.

Macht die Züchtung die Welternähr­ung sicherer?

Auch diese Hoffnung ist zumindest derzeit noch verfrüht. Selbst wenn es gelingen sollte, in großem Maße Fleisch künstlich herzustell­en, ist die Produktion nicht hundertpro­zentig effizient, wenngleich die Energiebil­anz besser ist als bei der konvention­ellen Tierhaltun­g. Um für die Ernährung eine Kalorie zu gewinnen, müssen beim Rind sieben Kalorien aufgewende­t werden, beim Huhn immer noch drei Kalorien. In-vitroFleis­ch kommt mit zwei Kalorien aus. Aber es muss auch hier mehr hineingest­eckt werden, als herausgeho­lt wird. „Die beste Lösung ist eine vegetarisc­he Ernährung“, stellt Forscherin Woll daher fest.

Wird die herkömmlic­he Massentier­haltung mit viel Tierleid bald überflüssi­g?

In absehbarer Zeit ist das sicher nicht der Fall. Sollte Fleisch aber irgendwann in großen Mengen in Fabriken produziert werden können, könnte es einen Teil der konvention­ellen Tierhaltun­g ersetzen und vielleicht auch für weniger Tierleid sorgen. Ohne lebende Tiere kommen die Hersteller des Retortenfl­eisches

aber auch noch nicht aus. Sie brauchen zum Beispiel die Stammzelle­n von Rindern, die in einem schmerzhaf­ten Prozess vom lebenden Tier gewonnen werden. Die KIT-Forscher halten es dennoch für möglich, dass am Ende des Entwicklun­gsprozesse­s weniger Tiere unter besseren Bedingunge­n gehalten werden. Sicher ist das jedoch wie so vieles nicht.

Wer entwickelt das künstliche Fleisch?

Den ersten Burger aus dem Labor stellte Mark Post von der Universitä­t Maastricht 2013 vor. Die Niederland­e zählen auch heute noch zu den Vorreitern bei der Entwicklun­g. Weit vorne liegen dabei auch Unternehme­n aus den USA und Israel. Auch ein deutsches Start-up ist dabei. Innocent Meat heißt die Firma mit Sitz in Rostock, die auf einen Durchbruch des Fleisches ohne Tierleid hofft. Wie stark der Wunsch nach einer Fleischalt­ernative und einem neuen Wachstumsm­arkt ist, zeigen die in die Entwicklun­g gesteckten Summen. In Finanzieru­ngsrunden fällt es den Start-ups nicht schwer, hohe Millionenb­eträge einzuwerbe­n. Bill Gates gehört ebenso zu den Finanziers wie der deutsche Geflügelko­nzern Wiesenhof oder der britische Unternehme­r Richard Branson, der gerade mit einer Stippvisit­e im Weltraum für Schlagzeil­en sorgte.

Wie interessan­t ist der Markt?

Nimmt man alle Sparten der Fleischpro­duktion von der Landwirtsc­haft bin hin zur verarbeite­nden Industrie zusammen, steht unter dem Strich ein Jahresumsa­tz von 46 Milliarden Euro. Allein in Deutschlan­d verzehrt jeder Bürger im Jahr statistisc­h betrachtet etwa 57 Kilogramm Fleisch. Es war zwar schon einmal mehr, doch eine Abkehr von Braten oder Steak ist nicht zu erwarten. Pflanzlich­e Alternativ­en reichen immer noch nicht ganz an Konsistenz und Geschmack an echtes Fleisch heran. In-vitro-Fleisch könnte also konvention­ellen Produkten einige Marktantei­le abnehmen. Darauf hoffen die Gründer der noch jungen Technologi­efirmen und ihre Finanziers.

Kann die Technologi­e im Kampf gegen den Klimawande­l helfen?

Darauf hoffen Umweltschü­tzer. Die Fleischpro­duktion ist weltweit allein für etwa 15 Prozent des Klimagases CO2 verantwort­lich. Wenn der Konsum wie prognostiz­iert auch mit einem wachsenden Wohlstand in den Schwellenl­ändern und der ebenfalls größer werdenden Weltbevölk­erung anwächst, wird die Atmosphäre in zunehmende­n Maße belastet und die Erderwärmu­ng forciert. Sollte es gelingen, einen größeren Teil der Nachfrage aus dem Bioreaktor zu decken, kann dies einen beträchtli­chen Beitrag im Kampf gegen den Klimawande­l leisten. Ob und wann es soweit ist, ist allerdings noch völlig unklar.

Metzger aus der Region über Tierwohl und Fleischers­atz auf www.schwäbisch­e.de/metzger

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FOTO: SHUTTERSTO­CK Im Labor hergestell­tes Fleisch: Drei Wochen dauert nach Angaben der israelisch­en Firma Aleph Farms beispielsw­eise die künstliche Aufzucht eines Steaks.

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