Belgiens Trauma
Seit 25 Jahren sitzt der Kindermörder und Sexualverbrecher Marc Dutroux im Gefängnis
(dpa) - In Charleroi, außerhalb von Brüssel, steht ein Haus ohne eine Tür. Das Haus des Mannes, dessen Name ein Synonym für Grausamkeit ist: Marc Dutroux. Der Eingang ist verbarrikadiert, die Fassade mit einem großen Bild verkleidet. Zu sehen ist ein Kind vor einem himmelblauen Hintergrund, das einen Drachen in die Luft steigen lässt.
Der heute 64-jährige Dutroux entführte, vergewaltigte, folterte und tötete in den 1990er-Jahren mehrere Mädchen in Belgien. Zwei von ihnen verhungerten in einem Kellerverlies in diesem Haus. Am 13. August vor 25 Jahren konnte die Polizei Dutroux fassen. Nach acht Jahren fiel das Urteil: lebenslange Haft.
Vergessen hat Belgien Dutroux auch nach einem Vierteljahrhundert nicht. Die Person Dutroux bleibt ein Mahnmal. Wie auch das Haus mit der himmelblauen Fassade in Charleroi. Es ist ein Stück Farbe in einer trostlosen Gegend. Gleise liegen direkt vor der Tür, Autos rasen an der angrenzenden Schnellstraße auf der Überführung. Es ist durchweg laut.
Eine Gedenktafel gegenüber vom Haus erinnert an die Opfer von Pädokriminellen, also an Kinder, die Opfer von Verbrechern wurden. Nach Angaben eines Stadtsprechers soll das Haus bis 2023 abgerissen und auf dem Glände ein Gedenkgarten erbaut werden.
Zu den Opfern zählen zum Beispiel die beiden Mädchen Melissa Russo und Julie Lejeune. Beide wurden achtjährig im Juni 1995 entführt und in dem von Dutroux gebauten Verlies festgehalten und sexuell missbraucht. Damaliger Berichterstattung zufolge soll das Verlies rund zwei Meter lang und etwa ein Meter breit gewesen sein. Die Mädchen verhungerten, während Dutroux wegen Autodiebstählen für drei Monate im Gefängnis saß.
Zwei weitere Opfer, Eefje Lambrecks (19) und An Marchal (17), starben ebenfalls 1995, nachdem Dutroux und Komplizen sie entführt, missbraucht und gefoltert hatten. Im Mai 1996 entführte Dutroux die damals zwölfjährige Sabine Dardenne und im August die 14-jährige Laetitia Delhez und steckte sie in sein Verlies. Aufgrund von Zeugenaussagen konnte er dann gefasst werden. Die zwei Mädchen kamen frei. Sabine hatte zu dem Zeitpunkt mehr als 70 Tage und Laetitia etwa eine Woche im Verlies verbracht.
Besonders schockierend war der Fall, weil der fünffache Familienvater Dutroux und seine Lebensgefährtin, Michelle Martin, bereits in den 1980er-Jahren wegen der Entführung und des Missbrauchs von fünf Mädchen verurteilt worden waren. Er sollte eigentlich 13 Jahre absitzen, kam aber nur sechs Jahre nach seiner Verhaftung wegen guter Führung wieder frei.
Nach der endgültigen Festnahme am 13. August 1996 rollte eine Welle der Empörung über Belgien. Etwa 300 000 Menschen demonstrierten damals in Brüssel beim sogenannten Weißen Marsch unter anderem gegen sexuelle Gewalt an Kindern und die Justiz. Als Auslöser sahen viele vor allem die Absetzung des Untersuchungsrichters Jean-Marc Connerotte vom Fall Dutroux. Der Richter hatte an einem Benefizessen für die Opfer von Dutroux teilgenommen, daher warf man ihm Befangenheit vor. Connerotte hatte sich für ein striktes Durchgreifen gegen Pädokriminelle ausgesprochen.
Zudem beteuerte Dutroux, er habe im Auftrag eines Pädophilennetzwerkes mit bedeutenden Persönlichkeiten gehandelt. Diese Aussagen bestätigten sich zwar nie, für viele Menschen wurde der Fall Dutroux aber dennoch auch zu einem Inbegriff für das Versagen der Justiz und der Polizei. Er gilt auch als einer der Gründe für die Polizeireform in Belgien Mitte der 1990er-Jahre.
Sofia Mahjoub von Child Focus, eine Stiftung für sexuell missbrauchte und vermisste Kinder, ist sich sicher: Eine frühzeitige Entlassung des „Staatsfeindes“würde die belgische Gesellschaft nie akzeptieren. „Jeder kennt seinen Namen, jeder kennt seine Taten“, so Mahjoub. Dutroux habe Belgien verändert, gekennzeichnet und traumatisiert. Child Focus wurde unter anderem vom Vater eines der Opfer des Serienmörders gegründet.
Darf ein Mann wie Dutroux noch einmal auf freien Fuß kommen? Damals bekam er die lebenslängliche Haftstrafe. Sein Anwalt Bruno Dayez jedoch kämpft seit ein paar Jahren für die Entlassung. 2018 veröffentlichte er sogar ein Buch darüber. 2020 bestätigte ein psychologisches Gutachten, dass Dutroux nach wie vor eine Bedrohung sei und nicht frühzeitig entlassen werden könne. Auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur teilte Dayez mit, dass er nicht aufgeben werde. Derzeit sei „die Frucht“allerdings noch „nicht reif“. Seinem Anwalt zufolge büßt Dutroux seine Strafe in Einzelhaft ab: 25 Jahre alleine in einer neun Quadratmeter großen Zelle. Fast wie ein Verlies.