Die Niederlande in Klein
Auf der Wattenmeerinsel Texel fühlen sich nicht nur Urlauber, sondern auch Robben und viele Vögel wohl
Doch, das kann man essen. Marcel Wijnalda greift sich etwas Seetang aus dem Wasser und beißt zu. „Das ist 16-mal gesünder als Brokkoli“, behauptet er. Überprüfen kann man das in diesem Moment nicht, das glitschig-grüne Gewächs schmeckt leicht salzig, aber sonst nach nicht viel. Die Gäste knabbern zögerlich daran herum.
An den Stränden und in den Dünen von Texel ist Marcel Wijnalda in seinem Element. Der 49-Jährige stammt aus Groningen, vor 15 Jahren kam er als Lehrer auf die größte niederländische Wattenmeerinsel. Inzwischen arbeitet er als Naturführer und zeigt Gästen die Besonderheiten der Texeler Landschaft, bietet Wattwanderungen und NachtfalterAbende an. Jetzt bückt er sich wieder, diesmal nach einer Herzmuschel, die am Strand liegt. „Das hat ein Austernfischer gemacht“, erklärt er beim Spaziergang um die Nordspitze der Insel und deutet auf ein kleines Loch am oberen Ende der Muschelschale. „Wahrscheinlich auf der Wattenmeerseite. Die Muscheln schwemmt es hier dann an.“
Über die Dünen an der Texeler Nordspitze wacht ein großer roter Leuchtturm, das meistfotografierte Motiv der Insel. Ein breiter Sandstrand trennt den Dünengürtel von der offenen Nordsee. In Richtung Norden wirkt die Nachbarinsel Vlieland so nahe, als ob man eben mal hinüberschwimmen könnte. Das sollte man aber besser lassen: Zwischen den Inseln würde eine kräftige Strömung den Schwimmer aufs offene Meer hinaus ziehen, gerade jetzt, bei ablaufendem Wasser.
Wer während des Texelurlaubs im Meer schwimmen will, muss schon etwas Glück haben mit dem Wetter. Die Nordsee ist nicht das Mittelmeer. Meist weht eine steife Brise. Die meisten Menschen kommen denn auch eher hierher, um sich bei einer Strandwanderung einmal richtig vom Wind durchpusten zu lassen. Kinder sammeln Muscheln, lassen Drachen steigen und hüpfen mit hochgekrempelten Hosenbeinen durch die Wellen, Sportler in Neoprenanzügen lassen sich im Kitesurfen unterrichten. Wer sagt, dass das Meer nur zum Schwimmen gut ist?
Etwas weiter um die Texeler Nordspitze herum, an der Wattenmeerküste der Insel, ragt ein Steg ins Wasser. Hier legt der Kutter De Vriendschap ab, er bringt Besucher zu den vorgelagerten Sandbänken zwischen Texel und Vlieland. Zwanzig Minuten fährt die „Vriendschap“hinaus, dann kommen die ersten Tiere in Sicht. Sie zeigen keine Scheu, auch nicht, als sich das Boot mit leisem Motor bis auf Fotografierentfernung nähert. Die Tiere zu finden, erfordere keine besondere Mühe, sagt Rien Boer von der Crew der Vriendschap. „Die sind eigentlich immer hier.“Sowohl Seehunde als auch Kegelrobben würden auf den Sandbänken
leben, erklärt er, insgesamt 400 Tiere. Und weitere 250 Tiere auf der anderen Seite der Insel, zwischen der Südspitze von Texel und der Hafenstadt Den Helder, wo die Urlauber sich auf die Fähre einschiffen lassen.
Die Südspitze von Texel ist einen eigenen Ausflug wert. Dort liegt das Naturschutzgebiet De Hors, das Teil des Nationalparks Texeler Dünen ist. Dieser erstreckt sich über die gesamten gut 20 Kilometer entlang der Nordseeküste und umfasst ein Viertel der Inselfläche. Speziell in De Hors soll die Natur so weit wie möglich sich selbst überlassen werden, erklärt Anna Sprenkeling von der niederländischen Forstbehörde Staatsbosbeheer, die für die Verwaltung des Nationalparks zuständig ist.
„Wir lassen hier die See und den Wind die Arbeit machen“, erklärt sie. Allenfalls ein paar Büsche schneiden sie und ihre Kollegin zurecht, um die Wege frei zu halten, ansonsten bleiben Dünen und Strand sich selbst überlassen. Die Tierwelt auch. Für eine Kolonie Zwergseeschwalben hatte das in der vergangenen Brutsaison unangenehme Konsequenzen. Die Vögel pflegen ihre Nester direkt im Sand zu bauen, ohne weiteren Schutz. Weil sie am breiten Strand aber eine Stelle zu nah am Meer gewählt hatten, hat ein Hochwasser sämtliche Nester ins Meer gespült. Immerhin, erzählt Anna Sprenkeling, in einem anderen Teil des Nationalparks hatten ihre Artgenossen mehr Glück und sicherere Brutplätze gewählt.
Nicht nur für die Zwergseeschwalben ist Texel ein wichtiger Standort. Für viele Zugvögel ist die Insel ein fester Zwischenstopp auf dem Weg zum Beispiel von Skandinavien nach Westafrika. Löffler gibt es, Strandläufer, Brandseeschwalben und andere. „Es ist ein kleiner Nationalpark, aber einer, der reich ist an Biodiversität“, schwärmt die Försterin, die auf der Insel geboren und aufgewachsen ist. Sie erzählt von seltenen Orchideen und vitaminreichem Sanddorn. Während des Gesprächs auf einer Picknickbank am Rande des Naturschutzgebietes kommt ein Urlauberpaar aus Aachen beglückt aus den Dünen zurück: In einem der beiden Dünenseen, Horsmeertjes genannt, hätten sie gerade einen Flamingo gesehen. „Ja, der lebt schon seit dem vergangenen Jahr in De Hors“, bestätigt Anna Sprenkeling. „Er hat wohl den Anschluss an seine durchziehende Gruppe verloren und ist auf Texel heimisch geworden.“Gestört wird er kaum: Die wenigen Besucher verlieren sich zwischen den Dünen, die hier besonders breit sind. 20 bis 30 Minuten kann es in De Hors schon mal dauern, bis man vom nächstgelegenen Parkplatz durch die Dünen und über den Strand ans Meer gelangt, je nach Wasserstand. Anna Sprenkeling lacht. „Wer nur mal eben ein Bad im Meer nehmen will, sollte woanders hingehen“, rät die Försterin.
Hinter den Dünen beginnt die landwirtschaftlich genutzte Fläche. Sie lässt sich am besten mit dem Fahrrad erkunden. Das Wegenetz ist bestens ausgebaut und lückenlos beschildert, nur Gegenwind kann in baumloser Umgebung zur Qual werden. Links und rechts der kleinen Sträßchen grasen Schafe, von denen Texel mehr hat als Einwohner. Schafwollprodukte gehören zur gängigen Ausstattung der Souvenirläden; ein Hotel bietet sogar „Woolness“an, bei der der Körper eine Stunde lang komplett in Wolle eingewickelt wird. Längst ist das Texelschaf als Rasse weit über die Insel hinaus bekannt und begehrt: In Schottland haben Züchter im vergangenen Jahr bei einer Auktion den Rekordpreis von 367 500 britischen Pfund (zu diesem Zeitpunkt waren das rund 410 000 Euro) für ein sechs Monate altes männliches Exemplar auf den Tisch gelegt.
Zwischendurch führt die Radtour vorbei an Vogelschutzgebieten, durch kleine Ortschaften wie das malerische Oosterend und den alten Hafenort Oudeschild und durch ein erstaunlich großes Waldgebiet, De Dennen, das man auf einer Nordseeinsel nicht unbedingt erwartet hätte. „Das ist es, was ich an Texel liebe“, hatte schon Marcel Wijnalda gesagt, der zugezogene Naturführer. „Alle zwei Kilometer gibt es eine andere Landschaft. Wald, Dünen, Strand, Heide, verschiedene Dörfer, alle mit einem unterschiedlichen Charakter. Eigentlich ist Texel wie die Niederlande in Klein.“
Informationen und Buchungen unter www.texel.net