Ein Museum zum Reinbeißen
Das Lindt Home of Chocolate präsentiert sich als schokoladiges Schlaraffenland
Sieht so das Paradies aus? Nie versiegende Brunnen mit Vollmilch-, weißer und Zartbitterschokolade? Ein riesiger Tisch mit Spendern, die per Lichtschranke Schokoladenstücke auf die Handfläche fallen lassen – exotische Sorten von „Himbeere deluxe“bis „NougatKrokant“? Und schließlich eine gewaltige Theke mit Lkw-Reifen großen Bottichen voller Schokokugeln mit zartschmelzender Füllung unterschiedlichster Arten? Dieser sagenhafte Ort, dessen Beschreibung sich liest, als sei er nicht von dieser Welt, liegt im schweizerischen Kilchberg, auf der Westseite des Zürichsees. Umgangssprachlich heißt er LindtMuseum, doch die Maître Chocolatier selbst sprechen vom „Lindt Home Of Chocolate“. Dabei ist die Schokolade auf der ganze Welt zu Hause.
Hier an der Konzernzentrale des Traditionsunternehmens haben sich die Macher selbst ein süßes Denkmal gesetzt. Eines, vom dem jede Besucherin und jeder Besucher nach Herzenslust ein Stück herunterbeißen kann. Eine gut trainierte Naschkatze kann sich die umgerechnet knapp 14 Euro Eintritt also durch beständiges Futtern fast schon wieder hereinessen. Die 13jährige Sophia und ihre zehnjährige Schwester haben sich im Schatten des neun Meter hohen Schokoladenbrunnens in der großen Halle genau das vorgenommen. Dieser Brunnen wälzt übrigens beständig 1500 Kilo
Sommerzeit
Schokolade um.
Doch das Schwelgen in süßen Sachen ist nur ein Teil des Museums, das mitten im Corona-Jahr 2020 eröffnet worden ist. Es will schon ein bisschen mehr sein als der Realität gewordene Traum vom Schlaraffenland, denn: „Das Lindt Home of Chocolate ist ein multifunktionales Gebäude, das zur langfristigen Sicherung des Schokoladenstandorts Schweiz wie auch zur Wissensvermittlung rund um das Thema Schokolade in der gesamten Industrie beitragen soll“, erklärt Ernst Tanner, Stiftungspräsident der Lindt Chocolate Competence Foundation, in deren Trägerschaft das Museum liegt. Dass es in der langen Geschichte der Schokolade eine Menge zu vermitteln und zu erklären gibt, steht außer Frage. Und zu verzeihen. Nicht zuletzt, weil Kakao und Kolonialgeschichte eng miteinander verbunden sind. Und mit ihnen die Ausbeutung riesiger Gebiete in Mittel- und Südamerika, der rücksichtslose Umgang mit den Ureinwohnern.
Diesem bitteren Thema ist gleich zu Anfang ein verhältnismäßig großer Teil der interaktiven Ausstellung gewidmet, die sich über 1500 Quadratmeter erstreckt. Durchaus kindgerecht vermittelt, weniger romantisierend als aufklärend. Viel ist von Verantwortung die Rede. Und wie ist das heute damit? Eine Sprecherin des Konzerns sagt: „Wir unternehmen seit Jahrzehnten besondere Anstrengungen um eine sozial und ökologisch verantwortungsvolle Lieferkette sicherzustellen. So rief Lindt & Sprüngli bereits 2008 das eigene Nachhaltigkeitsprogramm „Lindt & Sprüngli Farming Program“ins Leben, das mittlerweile mehr als 80 000 Farmer umfasst und in allen Herkunftsländern, aus denen das Unternehmen Kakaobohnen bezieht, institutionalisiert ist.“Man habe also durchaus etwas aus dem kolonialen Erbe gelernt.
Warum es ausgerechnet die Schweiz ist, die wie kein anderes Land auf der Welt mit der Schokolade verbunden ist, erfährt der Museumsbesucher
in einer Ausstellungssektion, in der es um die Legenden und Pioniere der Schokolade geht, wie wir sie heute kennen. Denn die historischen Vorprodukte, die ins zweite Jahrtausend vor Christi Geburt zurückreichen, waren ausschließlich Getränke und hatten mit der Süßigkeit heutiger Prägung wenig bis gar nichts zu tun. Für die Entwicklung moderner Schokolade, wie sie heute üblich ist, war Rodolphe Lindt prägend. Seine Erfindung – die Conchiermaschine – ermöglichte erst den schmelzenden Charakter von Schokolade, die zuvor eher grob, brüchig und sandig war. Verpackt wird dieser Meilenstein in der Schoko-Entwicklung im Museum in pittoreske Installationen, die als nostalgische Idylle daherkommen, romantisierend – und immer mit den Schönheiten der bergigen Schweiz spielend. Ein Motiv, das bis heute in der Werbung für Schokolade Bestand hat. Reklame und Verpackung, und wie sie sich im Laufe des Siegeszugs der Schweizer Schokolade entwickelt haben, sind dann auch fester Bestandteil der Ausstellung, die sich langsam auf den Höhepunkt zubewegt: die Degustationsräume.
Die beiden Schwestern Charlotte und Sophie geraten in einen hypnotischen Zustand, als sie mit den überall bereit gelegten Löffeln den Brunnen mit weißer Schokolade anzapfen. Und auch als verantwortungsbewusster Elternteil muss man versuchen, sich unter Kontrolle zu halten. Unter dem zutiefst sinnlichen Eindruck dieser cremigen Verbindung von Kakao, Fett und Zucker verblassen die Wahrnehmungen anderer Exponate im Verköstigungsraum. Und so findet die kleine Produktionsstraße, die zeigt, wie Pralinés entstehen, kaum Beachtung. Zumal nach ihnen bereits die Spender stehen, aus denen per Lichtschranke Stückchen von Tafeln in die Hände fallen. In der Luft schwebt der Duft von warmem Honig und Vanille.
Was kann nach dieser kulinarischen Ekstase noch kommen? Eine ganze Menge – wenn man einen der Chocolatier-Kurse gebucht hat. Ganz oben im Museum, in einer zauberhaften Schokoladen-Küche, weiht der in prächtiger KonditorenTracht gehüllte Rolf in die Geheimnisse der Entstehung von Schokofiguren wie Hasen oder Nikoläuse ein. Kostenpunkt: umgerechnet rund 33 Euro. Temperierte Schokolade steht bereit – daneben essbare Dekoration, um den selbst gegossenen Hohlkörper zu verzieren. Unbezahlbar dabei: Die dialektgefärbte Stimme von Rolf, der in seiner fröhlichen Art den Berufswunsch der beiden Schwestern entfacht, selbst einmal beruflich mit Schokolade zu tun haben zu wollen. Was vermutlich gar keine so schlechte Idee wäre, denn die Geschäfte von Lindt laufen nach kurzem Stottern während der Pandemie ausgezeichnet: Im ersten Halbjahr 2021 konnte der Konzern seinen Gewinn mit den süßen Sachen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum auf 94 Millionen Euro mehr als verfünffachen.
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