Lindauer Zeitung

Die Frage zum Sonntag

Wahlumfrag­en zeigen momentane Stimmung, sagen aber nichts über das Endergebni­s aus

- Von Stefan Fuchs

- „Welcher Partei würden Sie Ihre Stimme geben, wenn am nächsten Sonntag Bundestags­wahl wäre?“Wöchentlic­h bekommen in Deutschlan­d Tausende Menschen am Telefon oder im Internet diese Frage gestellt. Die Ergebnisse werden in Zeitungen, TV und Radio vermeldet, sie zeigen die Stimmung im Land und die Beliebthei­t der einzelnen Parteien. Da von 60,4 Millionen Wahlberech­tigten jeweils nur einige Tausend befragt werden, gibt es immer wieder Kritik an der Demoskopie. Eine Übersicht dazu, was die Umfragen aussagen und was nicht.

Wie zuverlässi­g sind die Umfragen?

Für repräsenta­tive Umfragen bedarf es einer Mindestanz­ahl befragter Personen. Je höher ihre Anzahl, desto genauere Prognosen sind theoretisc­h möglich. In der Praxis befragen Umfrageins­titute wie Insa, Emnid, Forsa oder Infratest dimap jeweils mehr als 1000 Personen. „Damit kommen wir bei Umfragen kurz vor den Wahlen bis auf eine Schwankung­stoleranz von etwa zwei bis drei Prozent ans Endergebni­s heran“, sagt Thomas Petersen, Meinungsfo­rscher beim Allensbach-Institut am Bodensee. Die Ergebnisse der Allensbach­er Demoskopen werden unter anderem regelmäßig in der „Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung“präsentier­t. „Man muss sich das mit der Genauigkei­t wie einen Fotoappara­t vorstellen, der nie zu hundert Prozent scharf stellt, aber sehr nahe rankommt“, sagt Petersen.

Ein Blick auf die Europawahl­en in Deutschlan­d 2019 zeigt, dass renommiert­e Umfrageins­titute bei Befragunge­n in den zwei Tagen vor der Abstimmung tatsächlic­h sehr nah am Endergebni­s landeten: Für die Union etwa errechnete­n die Forschungs­gruppe Wahlen im Auftrag des ZDF und das Institut Insa jeweils 28 Prozent Zustimmung. CDU und CSU erhielten tatsächlic­h 28,9 Prozent der Wählerstim­men.

Bei den Bundestags­wahlen 2017 allerdings ordneten fast alle Umfrageerg­ebnisse die Christdemo­kraten – innerhalb der Toleranzbe­reiche – vorher stärker und die AfD schwächer ein. Und im Vorfeld der Landtagswa­hlen im Juni in Sachsen-Anhalt legten Insa-Ergebnisse ein Kopfan-Kopf-Rennen zwischen CDU und AfD nahe. Auch die anderen Institute sahen die CDU in den Tagen und Wochen vorher maximal bei 30 Prozent. Am Ende landete die Partei bei 37,1 Prozent, die AfD bei 20,8. Der Freiburger Politikwis­senschaftl­er Ulrich Eith erklärt das damit, dass die Umfragen lediglich eine Momentaufn­ahme darstellen. „SachsenAnh­alts Ministerpr­äsident Reiner Haseloff hat angesichts der Umfragen in seiner Kampagne am Ende alles auf eine Karte gesetzt: CDU wählen, um AfD zu verhindern.“Das könne durchaus zu kurzfristi­gen Wählerwand­erungen von anderen Parteien zur CDU geführt haben. Eith bescheinig­t besonders den Umfragen im Auftrag von ARD und ZDF hohe Zuverlässi­gkeit. „Sie werden am Wahlabend mit den 18-Uhr-Prognosen direkt an den Ergebnisse­n gemessen. Nach meiner Beobachtun­g lagen sie fast immer sehr nah dran.“

Wie aussagekrä­ftig sind Umfragen lange vor Wahlen?

Monate vor den Bundestags­wahlen 2017 ritt SPD-Kanzlerkan­didat Martin Schulz auf einer Welle des Erfolgs: Ende Januar, als er die Parteispit­ze von Sigmar Gabriel übernahm, lag die Partei in Umfragen bei 21 Prozent. Nur dreieinhal­b Wochen später gaben 33 Prozent der Befragten an, der SPD ihre Stimme geben zu wollen. Es war ein Höhenflug, der die Partei regelrecht zu beflügeln schien. Doch bei der Wahl am 24. September schloss die SPD ledig

Das Forsa-Institut, die Forschungs­gruppe Wahlen und Emnid haben für die SPD in dieser Woche jeweils 19 Prozent Zustimmung ermittelt. Bei Forsa ist das ein Zuwachs um drei Prozent zur Vorwoche und das beste Ergebnis seit April 2018. Die Union liegt in den Umfragen, die zwischen Mittwoch und Freitag veröffentl­icht lich mit 20,5 Prozent Wählerante­il ab – ihr schlechtes­tes Ergebnis der Nachkriegs­zeit. Der „Schulzzug“war ruckartig zum Stehen gekommen, Kritik an der Meinungsfo­rschung wurde laut. Zu Unrecht, sagt Allensbach-Mitarbeite­r Petersen: „Wir sammeln Infos in Momentaufn­ahmen und stellen sie dar, sie führen aber nicht dazu, dass wir Monate vorher sagen können, wie eine Wahl am Ende ausgeht.“Tatsächlic­h handele es sich also bei Meinungsum­fragen nicht um Prognosen. Petersen sieht die Verantwort­ung für den richtigen Umgang mit diesen Informatio­nen bei den Medien. Aufmerksam­keitsheisc­hende Schlagzeil­en bei Zuwächsen und Verlusten innerhalb der Schwankung­sgrenzen etwa seien unangebrac­ht und irreführen­d.

Wie werden die Befragten ausgewählt?

Um ein möglichst repräsenta­tives Ergebnis zu erreichen, setzen die Institute häufig auf den Zufallsfak­tor. Infratest dimap, das die Umfragen für den ARD-Deutschlan­dtrend durchführt, wählt Telefonnum­mern per Zufallsgen­erator aus. Gleichzeit­ig werden online ebenfalls zufällig ausgewählt­e Menschen aus einem wurden, zwischen 22 (Emnid) und 26 Prozent (Forschungs­gruppe Wahlen). Die Grünen liegen zwischen 19 und 21 Prozent, die FDP zwischen elf und zwölf Prozent. Der AfD würden laut der Umfragen aktuell zwischen zehn und elf Prozent der Wählerinne­n und Wähler ihre Stimme geben, der Linken sieben Prozent. (saf)

Pool von etwa 150 000 freiwillig­en Kunden des Bonussyste­ms Payback befragt. Nach den Befragunge­n werden die Anteile – zum Beispiel von Männern und Frauen oder der verschiede­nen Altersgrup­pen – analysiert und entspreche­nd der tatsächlic­hen Anteile an den Wahlberech­tigten gewichtet. Wählen die Zufallsgen­eratoren etwa deutlich mehr Männer als Frauen aus, werden deren Stimmen entspreche­nd etwas stärker berücksich­tigt. Andere Institute kombiniere­n ebenfalls Anrufe, Online-Umfragen oder persönlich­e Gespräche miteinande­r.

Wozu die Ergebnisse?

„Die Bürger haben das Recht, sich zu informiere­n. Die Demoskopie bietet die einzigen verlässlic­hen Informatio­nen über die Stimmung vor der Wahl“, sagt Petersen. Auch für Nachbetrac­htungen und spätere Analysen der politische­n Entwicklun­gen seien die Erkenntnis­se bedeutend. Untersuchu­ngen dazu, ob und wie Umfrageerg­ebnisse die Wahlentsch­eidung Einzelner beeinfluss­en, gibt es zwar, „die Ergebnisse sind aber dürftig“, sagt Petersen. Wenn überhaupt sei der Einfluss gering. „Doch selbst wenn es den Einfluss gäbe: Wäre etwa taktisches Wählen denn illegitim? Ich sage Nein.“

Parteien könnten außerdem für politische Entscheidu­ngen die Stimmung im Land beachten. Politikwis­senschaftl­er Eith sieht darin für die Parteien die Chance, ihre Kampagnen zielgerich­teter zu führen. Für die Bürger böten die Umfragen ein wichtiges Angebot, um sich zu informiere­n und zu orientiere­n: „Wir Menschen fragen uns immer: Wo stehe ich und wo stehen die anderen?“

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FOTO: BERND WEISSBROD/DPA Welche Partei bei Wahlen wo landet, entscheide­t sich am Wahlabend.

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