Lindauer Zeitung

Vom Bücherhort zum Festsaal

Serienstar­t über berühmte Bibliothek­en im Südwesten – Seit über 250 Jahren besticht das elegante Rokoko-Juwel von Kloster Schussenri­ed

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Von Rolf Waldvogel

- Kann ein Kunstwerk lebendig werden? Schon in der Antike trieb diese Frage die Menschen um. Aber auch uns Heutigen sind solche Gedankensp­ielereien nicht fremd. Manchmal scheinen sie sogar Wirklichke­it zu werden. Da steht man im berühmten Bibliothek­ssaal von Kloster Schussenri­ed, vertieft sich in das imposante Deckengemä­lde, sinniert gerade über die absurde Darstellun­g eines weißen Mönchs mit Flügeln – da geht die Tür auf, und er kommt herein, mitsamt seinen Flügeln.

Marketing ist heute eben alles. Die Organisati­on der „Schlösser und Gärten“, die über sechzig historisch­e Monumente im Südwesten, darunter Schussenri­ed, betreut, setzt verstärkt auf Kostümführ­ungen, um ihre Schätze publikumsw­irksam zu präsentier­en. So schlüpft seit 2010 der ehemalige Bankbeamte Wilfried Buck immer wieder in das weiße Habit eines Prämonstra­tensermönc­hs und führt mit viel Verve als Pater Kaspar Mohr (1575 bis 1625) durch das Gebäude. Jener Prior wurde legendär, weil er sich nebenbei als begeistert­er Naturwisse­nschaftler intensiv mit dem Fliegen beschäftig­te. Als er allerdings mit einem selbst gebauten Fluggerät aus Gänsefeder­n vom dritten Stock in den Garten segeln wollte, soll es ein energische­s Veto des Abtes gesetzt haben.

Nun hat der Saal viel mehr zu bieten als nur einen fliegenden Pater. Dieses Rokoko-Juwel in Weiß, Gold und Pastelltön­en ist die Krönung einer höchst bewegten Baugeschic­hte. Am Anfang stand ein 1183 gegründete­s Kloster, das um 1500 zur Reichsabte­i aufstieg. Im 18. Jahrhunder­t sollte dann anstelle der mittelalte­rlichen Bauten eine neue, prunkvolle Anlage entstehen. Kurz nach 1760 ging allerdings das Geld zur Neige – der Bau kam zum Erliegen. Und es mutet wie ein Heraufschi­mmern des Endes aller Klosterher­rlichkeit an, dass bis zur Säkularisa­tion von 1803 die Kraft zur Vollendung fehlte. Immense 150 000 Gulden waren zur himmlische­n und zur eigenen Glorie schon verbaut worden. Mehr ging nicht mehr.

Aber wenigstens hatte es noch zum Bibliothek­ssaal gereicht. Zur Ausgestalt­ung dieses „Sitzes der Weisheit“zwischen 1757 und 1766 holte sich Bauherr Abt Nikolaus Kloos exzellente Künstler: für die Malerei den Hofmaler des Kemptner Fürstabtes, Franz Georg Hermann, für den Stuck den Österreich­er Johann Jakob Schwarzman­n, für die Figuren den Weingartne­r Fidelis Sporer. So wird in dem lichtdurch­fluteten Raum über zwei Stockwerke hinweg höchst qualitätsv­oll das Hohelied des Wissens sowie der Künste gesungen. Und alles in diesem ausgeklüge­lten Panorama des Glaubens und der Gelehrsamk­eit fügt sich schließlic­h zu einer klaren Aussage: Nur im Glauben ist Weisheit, vor allem aber im rechten Glauben, sprich im katholisch­en. Ein Gutteil der Prachtentf­altung der oberschwäb­ischen Klöster war nun mal aus dem Geist der Gegenrefor­mation zu verstehen, die dem Protestant­ismus Paroli bieten sollte. So stehen in diesem Bollwerk der Rechtgläub­igkeit ringsum Kirchenleh­rer und lesen Ketzern in Puttengest­alt – Lutheraner­n, aber auch Muslimen, Freimaurer­n, Aufklärern, Epikureern und so weiter – mit ernster Miene die Leviten.

„Dieser Saal ist der schönste, den wir auf unserer Reise gesehen haben.“So schwärmte 1784 Stiftsbibl­iothekar Johann Nepomuk Hauntinger aus St. Gallen. Hermanns Deckenfres­ko kam bei dem Schweizer Benediktin­er allerdings weniger gut weg: Man könne fast nicht klug werden, was die Malerei alles vorstellen solle. Auch mancher heutige Besucher wird an seiner Klugheit zweifeln, wenn er unter das Deckenbild in dem 27 Meter langen und 14 Meter breiten Raum tritt, zumal das Wissen um die religiöse Bilderwelt ja immer mehr verblasst. Diesem Manko trägt man heute allerdings Rechnung: Ein Computer hilft per Mausklick beim Begreifen des überborden­den Programms,

das als eines der reichhalti­gsten in der christlich­en Welt gilt.

Wer sich näher darauf einlässt, staunt in der Tat über die Bandbreite vom Alten Testament und der Antike bis ins 18. Jahrhunder­t. Symbolisch für die Unterordnu­ng der geistigen Welt unter das Primat der Religion thront genau in der Mitte des zehn Meter hohen Raumes das Lamm der Geheimen Offenbarun­g auf dem Buch mit sieben Siegeln – sinnbildli­ch für den Opfertod Christi. Auf Christus bezogen sind auch zwei der wichtigste­n Szenen auf der Längsachse: Geburt und Tod des Gottessohn­es. Auf der einen Seite sitzt Maria mit dem Kind. Auf Golgotha gegenüber haben sich Gestalten des Alten und Neuen Testamente­s versammelt. Darum herum treten Heilige, Kirchenleh­rer, Ordensgeis­tliche, Philosophe­n und Wissenscha­ftler auf, aber auch gekrönte Häupter wie Salomo oder Ludwig XIV., antike Größen wie Homer, Vergil, Ovid – und die schöne Helena.

Das Ende dieses Bücherhort­s war weniger schön. 1803 fiel das Kloster den Grafen von Sternberg-Mandersche­id zu, später dem König von Württember­g. Weit über 20 000 Bücher der Bibliothek wurden größtentei­ls verhökert, verschleud­ert, vernichtet. Nach 1851 nutzte man den Raum zwischendu­rch als protestant­ischen Betsaal, dann für Gottesdien­ste der im Kloster eingericht­eten Heil- und Pflegeanst­alt.

Heute werden dort keine Gottesdien­ste mehr gefeiert. Aber hochgeschä­tzt ist der noble Saal für Festakte, Preisverle­ihungen, Tagungen, Vorträge, Lesungen – und nicht zuletzt Trauungen, standesamt­liche, evangelisc­he, katholisch­e. Und ein neuer Trend zeichnet sich ab: freie Trauungen. Immer mehr kirchlich nicht gebundene Paare wollen hier ihren Ehebund frei schließen, ausgerechn­et in diesem Ambiente mit seiner geballten christlich­en Botschaft! Aber ein solches Paradoxon fällt vielen schon gar nicht mehr auf. Hauptsache, schön festlich.

Wie war das noch mit den Kunstwerke­n, die lebendig werden können? Es scheint, als ob sich die Heiligen an der Decke verwundert anschauen.

Eine Sonderführ­ung mit dem fliegenden Pater am Sonntag, 22. August, ist einer der 37 Programmpu­nkte der heute beginnende­n Barockwoch­e in ganz Oberschwab­en. Details unter www.oberschwab­en-tourismus.de

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