Lindauer Zeitung

„Mehr Demut vor dem Wissen unserer Vorfahren“

Historiker­in Roberta Rio untersucht, welche Wirkung bestimmte Orte auf Menschen haben und warum das so ist

- Von Angelika Prauß

Wohl jeder hat schon mal einen Ort gesucht, wo er sich rundum wohlfühlt und den er aufsucht, um zu entspannen und zur Ruhe zu kommen. Die einen finden ihn unter dem alten Apfelbaum im heimischen Garten, die anderen an der Bank am See oder vor dem Marienbild in der kleinen Kapelle. Wieder andere suchen diesen Ort nur selten, vielleicht im Urlaub auf – das Ferienhaus in den Dünen, die imposante Höhle oder die Almhütte in den Bergen.

Gerade in der heutigen, von vielen Alltagsbel­astungen oder auch Zukunftsän­gsten geprägten Zeit, sehnen sich Menschen offenbar nach solchen Orten. Eine Sehnsucht, die sich auch auf dem Buchmarkt widerspieg­elt – unzählige Titel beschäftig­en sich mit den „Kraftorten“Garten und Natur. Allen gemein scheint die besondere Ausstrahlu­ng und Atmosphäre zu sein, die Menschen dort in ihrem Innersten berührt; sie fühlen sich intuitiv zu ihnen hingezogen, fühlen sich verbunden mit der Welt und mit Gott.

Viele haben „ihren“besonderen Ort schon gefunden. Das zeigt das Projekt „andere orte“des ökumenisch­en Vereins „Andere Zeiten“. Seit 2017 sind Menschen eingeladen, solche besonderen Orte über eine App miteinande­r zu teilen. Hintergrun­d sei die Beobachtun­g gewesen, „dass Menschen Spirituali­tät an vielen Orten erleben, nicht ausschließ­lich in Kirchen“, erläutert Sabine Henning, die das Projekt

Haben Orte eine „Seele“? Können sie Menschen positiv oder auch negativ beeinfluss­en? Suchen wir auch deshalb alte Kirchen und Klöster auf, weil deren besondere Ausstrahlu­ng uns gut tun? Fragen wie diese beleuchtet die Historiker­in Roberta Rio in ihrem Buch „Der Topophilia-Effekt. Wie Orte auf uns wirken“. Im Gespräch mit Angelika Prauß (KNA) bricht die italienisc­he Geschichts­wissenscha­ftlerin eine Lanze für altes Wissen und erklärt, wie jeder seinen persönlich­en Kraftort finden kann.

Frau Rio, wie sind Sie als Historiker­in dazu gekommen, sich mit der stärkenden, aber mitunter auch schädliche­n Wirkung von bestimmten Orten zu befassen?

Aufgrund meiner eigenen Erfahrung: Meine Mutter wurde krank, und ich habe mich gefragt, ob das mit dem Haus zusammenhi­ng, in dem sie lebte und in dem ich mich schon als Kind nie wohlgefühl­t habe. Hippokrate­s riet bei chronische­n Krankheite­n, den Wohnort zu wechseln – eine interessan­te Herangehen­sweise, die mich neugierig gemacht hat. Meine Mutter hat das abgelehnt, sie ist verstorben. Durch ihren Tod habe ich mich intensiv damit beschäftig­t, wie Orte auf uns wirken. betreut: „Im Alltag und in der eigenen Lebensgesc­hichte gibt es viele Kraftorte, Glücksplät­ze und Zufluchtsw­inkel.“

Derzeit seien in der App rund 1400 Orte in Deutschlan­d und in angrenzend­en Ländern verzeichne­t – darunter „Wow-Orte“, die Menschen ins Staunen versetzten. Dazu

Mit welchem Ergebnis?

Ich habe bemerkt, dass an manchen Orten immer wieder ähnliche Ereignisse passieren. Ich habe keine Erklärung gehören laut Henning auch ein Hamburger Parkhaus mit einer imposanten Kuppel und ein Bunker, der zum Friedenssy­mbol geworden ist. „Ein anderer Ort weckt den Sinn und Geschmack fürs Unendliche – man kommt zur Ruhe, fühlt sich eingebette­t in größere Zusammenhä­nge.“

dafür. Aber ich konnte aus der historisch­en Perspektiv­e bestätigen, dass bestimmte Begebenhei­ten wie Glück, Krankheite­n und

Auch Stephan Gröschler haben es „kraftvolle Orte“angetan. In seinem gleichnami­gen Blog hat der Ingolstädt­er mehrere Hundert „kraftvolle, mystische und geheimnisv­olle Orte“in Bayern zusammenge­stellt, darunter Bäume, Quellen, Steine. „Jeder, der mit wachem

Geist durch die Welt geht, kann diese besonderen Orte entdecken“, schreibt Gröschler. Von einigen gehe „eine magische, unerklärli­che Ausstrahlu­ng aus“, andere Orte spendeten Entspannun­g, manche machten Mut, und wieder andere stimmten nachdenkli­ch.

Nicht nur gläubige Menschen suchen gezielt auch alte Kirchen, Kathedrale­n, Kapellen und Klöster auf, um Kraft zu tanken. Vor vielen Jahrhunder­ten erbaut, scheinen sie die Glaubensge­schichte vieler Menschen widerzuspi­egeln und die Besucher zu stärken. Nicht selten stehen sie an Stellen, die schon die Kelten als heilige Orte für Rituale nutzten. Die italienisc­he Historiker­in Roberta Rio hat sich intensiv mit dem Thema beschäftig­t. In ihrem Buch „Der Topophilia Effekt. Wie Orte auf uns wirken“schreibt sie, dass frühere Generation­en und Kulturen um die besondere Energie und den bereits bei den Römern bekannten „spiritus loci“bestimmter Orte wussten und dieses Wissen gezielt nutzten (siehe Interview).

So hätten beispielsw­eise die Kelten Kraftplätz­e und Kraftlinie­n gekannt – und sie entweder gezielt bebaut oder gemieden. „Viele sakrale Bauten des Christentu­ms stehen auf Kraftplätz­en der Kelten“, erklärt Rio. Dazu zählten auch die berühmten Kathedrale­n in Chartres

Erfolg an gewissen Orten gehäuft auftreten. Seit 2008 erstelle ich Gutachten, werde von Privatpers­onen und Unternehme­n beauftragt, über die optimale Widmung eines Ortes zu forschen. Inzwischen habe ich meine eigene Methode entwickelt und sie 2011 an der Universitä­t von Glasgow präsentier­t.

Und was macht man mit der Erkenntnis, wenn ein Ort eine schlechte Energie zu haben scheint?

Zunächst möchte ich bemerken, dass es nicht per se einen „guten“oder „schlechten“Ort gibt. Das Thema ist, wie wir diese Orte nutzen. Unsere Vorfahren haben bewusst das Areal für ihren Friedhof – ein Ort des Zerfalls – ausgewählt. Vielleicht haben sie es gewählt aus dem Empfinden, dass die natürliche Energie der Erde an dieser Stelle die Zersetzung der Materie unterstütz­t. Ich wünsche mir mehr interdiszi­plinäre Forschung auf dem Gebiet, das unsere heutige Wissenscha­ft mit großer Skepsis betrachtet.

Viele Menschen sehnen sich nach einem Ort zum Auftanken. Wie können sie ihn finden?

Jeder von uns spürt intuitiv die Atmosphäre und Ausstrahlu­ng eines Ortes. Bei der ersten Begegnung mit und Köln. Dombaumeis­ter hätten früher die Wirkung von Orten gezielt genutzt, so Rio. Das habe ihr auch der Wiener Dombaumeis­ter Wolfgang Zehetner bestätigt: Bei der Standortwa­hl seien früher „energetisc­he Informatio­nen“berücksich­tigt worden. Kanzeln und Altäre sind demnach oft „über Schnittpun­kten von Wasserader­n errichtet“worden, „um so eine Quelle für Kraft und Inspiratio­n anzuzapfen“.

Was ein „Kraftort“ist, für wen und in welchem Zusammenha­ng, ist nicht definiert – ein Ruhebänkch­en auf dem Spazierweg kann es ebenso sein wie der eigene Garten, eine Kapelle oder ein besonderer, alter Baum. Das persönlich­e Empfinden spielt hier eine große Rolle. Aber es gibt auch besondere Plätze im Südwesten, die über lange Zeit als Kult- oder Glaubensor­te genutzt wurden. Dazu zählen beispielsw­eise einstige Siedlungsp­lätze der Kelten wie etwa der Ipf bei Bopfingen auf der Ostalb. Oder der frühere keltische Fürstensit­z, die Heuneburg bei Herberting­en. Auch die Dietfurter Höhe bei Sigmaringe­n, die schon seit der Altsteinze­it besiedelt war und im 20. Jahrhunder­t dem Neutempler­orden als Versammlun­gsstätte diente, darf als Ort mit besonderer Geschichte gelten. So auch der Dreifaltig­keitsberg bei Spaichinge­n, der mutmaßlich ebenfalls seit der Steinzeit besiedelt war. einem neuen Menschen oder auch einer neuen Wohnung spürt man – auch über winzige körperlich­e Reaktionen – sofort eine Zu- oder Abneigung, ein Wohlfühlen oder Unbehagen. Die erste Wahrnehmun­g, das Bauchgefüh­l sagt immer die Wahrheit. Oft kommt dann der Verstand ins Spiel mit Argumenten wie: „Aber die Lage der Wohnung ist gut …“. Und später merkt man, dass der Umzug dorthin doch keine gute Idee war.

Zum Thema Kraftorte gibt es mittlerwei­le viele Veröffentl­ichungen. Woher rührt das starke Interesse?

Das Thema „Kraftorte“ist derzeit in Mode. Durch die Corona-Herausford­erungen gibt es eine große Sehnsucht nach einem Raum, an dem wir ankommen können. Die aktuelle Krise hat aber auch den Blick geschärft für das Wesentlich­e im Leben – da bekommen die Themen Wohnen und Entspannun­g eine große Bedeutung.

Viele suchen auch Kirchen, Kapellen und Klöster zum Krafttanke­n auf. Woran liegt das?

Da kommen wohl mehrere Faktoren zusammen. Es steht fest, dass die alten Baumeister beispielsw­eise Kreuzgänge dort errichtete­n, wo sich

Dieses Wissen sei aber in Vergessenh­eit geraten und werde von der von modernen Wissenscha­ft abgelehnt, bedauert Rio. Sie wirbt für ein Miteinande­r von altem, oft intuitiven Wissen und heutiger Wissenscha­ft. „Nicht alles, was an die Grenzen des wissenscha­ftlich Erklärbare­n stößt, ist deshalb gleich esoterisch­er Schwachsin­n. Nur weil wir für etwas noch keine rationale Erklärung gefunden haben, muss es nicht falsch sein.“

Nicht selten wurden an alten Kultplätze­n aus germanisch­er oder keltischer Zeit auch christlich­e Kirchen errichtet, Wallfahrts­stätten entstanden. So gilt der Bussen im Landkreis Biberach mit seiner Wallfahrts­kirche St. Johannes Baptist bis heute als „heiliger Berg Oberschwab­ens“. Pilger von nah und fern zog auch die ehemalige Wallfahrts­kirche „Maria Hilf“auf dem Welschenbe­rg bei Tuttlingen an, noch heute ist die Ruine ein besonderes Ziel für Wanderer und Ruhesuchen­de. Zu den prachtvoll­en sakralen Bauten in der Region, die seit jeher im Leben der Menschen und Städte eine zentrale Stellung einnahmen, zählen unter anderem das Münster in Ulm, die barocke Basilika auf dem Martinsber­g in Weingarten oder die Klosterkir­che in Birnau bei UhldingenM­ühlhofen am Bodensee. Auch die Wieskirche im bayerische­n Pfaffenwin­kel gehört zu den besonderen Orten des Glaubens. (sz) einst unterirdis­ches Wasser befand. Wer sich mit ihren Texten auseinande­rsetzt, bemerkt, dass diese Orte stets bewusst gewählt wurden. Denn dort glaubte man Kräfte der Natur am Werk, um gewisse Phänomene wie das Streben nach Spirituali­tät oder das Gefühl von Mystischem zu erzeugen. Unsere Vorfahren haben Gebäude mit viel mehr Aufmerksam­keit als heute gebaut.

Viele halten das alles für Esoterik oder längst widerlegte­n Aberglaube­n. Warum werben Sie für mehr Offenheit für dieses wissenscha­ftlich – vielleicht noch – nicht beweisbare Thema?

Durch meine Erfahrunge­n in über hundert Beratungen habe ich bemerkt, dass Orte tatsächlic­h einen Einfluss auf unser Leben haben – auf unsere Beziehunge­n, unseren Erfolg, unsere Gesundheit. Eine Auseinande­rsetzung mit den Orten erscheint mir sinnvoll, schließlic­h verbringen wird dort viel Zeit. Wenn wir die Essenz eines Ortes kennen, können wir deren gute Energie nutzen. Als Historiker­in sage ich: Wir sollten mehr Demut vor dem Wissen unserer Vorfahren haben. Es schlummert viel Wissen in alten Büchern, die wir noch nicht in unsere heutige Sprache und in die Sprache der Wissenscha­ft übersetzt haben.

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