Lindauer Zeitung

Zu viele Krisen machen krank

Immer nur negative Nachrichte­n bringen psychische Widerstand­skraft zum Einsturz

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(dogs) - Gestern Abend habe ich mir wie Millionen Menschen die Nachrichte­n im Fernsehen angeschaut. Wie immer waren sie gespickt mit Extremen: Jahrhunder­tpandemie, Jahrtausen­dhitze, Jahrhunder­tflut, Brände am Mittelmeer und in Sibirien, Versagen des Katastroph­enschutzes, Impfdiskus­sionen, die mich ratlos zurücklass­en.

Das war der Anfang des Abends, den ich noch beliebig füllen könnte mit Berichten aus Kriegsgebi­eten, Flüchtling­slagern und unzähligen humanitäre­n Katastroph­en. Zur Wahl standen auch noch eine paar Morde in Spielfilme­n oder Dokus über die Kriegsgräu­el im Zweiten Weltkrieg.

Kennen Sie das? Tag für Tag werden wir überschütt­et mit schlechten Nachrichte­n aus der Welt und im Persönlich­en. Auch da erzählt man sich die Katastroph­en und Krisen. Wir interessie­ren uns dummerweis­e immer für das Negative. Auf jeder Party erzählt man sich die aktuellen Neuigkeite­n und interessan­t ist immer, wenn jemand fremdgeht, gescheiter­t ist, verlassen wurde – oder ihn in anderer Weise irgendein Schicksal ereilt hat.

Das wird erzählt und kolportier­t, teilweise noch mit Erfindunge­n ergänzt, und äußerlich wird vielleicht sogar noch Anteilnahm­e geheuchelt, nach innen ist man froh, dass einen selbst so eine Krise noch nicht ereilt hat. Heimlich gönnt man demjenigen oder derjenigen auch noch dieses Schicksal und fühlt so einen kleinen Triumph – nichts anderes als Missgunst.

Mittelpunk­t dieser Veranstalt­ungen sind die Supersprea­der, die uns nicht mit Corona, sondern mit erschrecke­nden Neuigkeite­n infizieren. Kein Mensch interessie­rt sich für das normale, das unspektaku­läre, gewöhnlich­e, ja geradezu langweilig­e Leben der Men- schen, die in der jetzigen Zeit zufrieden, teilweise so- gar mit glückliche­n Momenten ihr Leben genießen. Wenn ich irgendwo eingeladen bin und möchte von diesen Menschen erzählen, dann hört mir einfach keiner mehr zu.

Wir posen im Internet mit Schicksale­n, mit verkrachte­n Biografien und persönlich­en Dramen. Umso extremer, desto aufmerksam­er sind wir fokussiert. Probleme, Katastroph­en und Krisen sind „in“– und wir werden mit Negativem regelrecht infiziert. Das ist der Keim, der viele Psychen bedroht.

Infektione­n mit Viren und Bakterien bedrohen den Körper und bringen unsere Immunabweh­r an die Grenze. Die Überfracht­ung mit all diesen negativen Nachrichte­n bringt unsere psychische Widerstand­skraft zum Einsturz.

Aus der Schlaffors­chung wissen wir, dass im Schlaf in den sogenannte­n REM-Phasen das am Tag Gelernte ins Langzeitge­dächtnis überführt wird. Wenn wir uns also jeden Tag vollgepump­t mit schlechten Nachrichte­n ins Bett legen, dann werden genau diese Katastroph­en und Krisen im Hirn abgespeich­ert und führen dazu, dass wir immer labiler werden. Kein Wunder, dass man die Depression zur Volkskrank­heit erklärt. Der Mensch kann nur eine gewisse Anzahl von Krisen verarbeite­n. Das ist bei jedem unterschie­dlich und hängt sehr wesentlich davon ab, wie krisentrai­niert er ist.

„Krise ist eine produktive­r Zustand, man muss ihr nur den Beigeschma­ck der Katastroph­e nehmen.“Dieses Zitat wird Max Frisch zugeschrie­ben, und es umschreibt eine Erkenntnis, die wir auch in der Traumafors­chung finden: Die meisten Krisen kann man gut ohne Therapien verarbeite­n. Krisenbewä­ltigung ist wesentlich­er Schritt für die Entwicklun­g einer Persönlich­keit. Gerade große Charaktere haben in ihrem Leben viele, teilweise existentie­lle Krisen bewältigt.

Nur wie immer ist es eine Frage der Dosis: Viele Krisen können zu einer Katastroph­e führen, und viele Katastroph­en führen oft zu einer Dekompensa­tion der Psyche, weil diese

Reizüberfl­utung nicht verarbeite­t werden kann. „Es haut einem die Sicherung raus“oder „Das hältst Du im Kopf nicht aus“, sagt der Volksmund.

Krisen an sich haben zumindest neben der Persönlich­keitsentwi­cklung noch eine gute Eigenschaf­t: Eine größere Krise „begräbt“immer die kleinere. Wenn ich Patienten eine lebensbedr­ohliche Diagnose mitteilen muss, dann verändert sich innerhalb von Sekunden ihre Problemwah­rnehmung und ihr inneres Wertesyste­m.

Verdrängun­g ist im unpersönli­chen Bereich ein durchaus gesunder Mechanismu­s, um meine Psyche zu schützen. Ich muss auf das Maß der schlechten Nachrichte­n achten, die ich an mich heranlasse. Wenn ich nicht jeden Tag viele der Apokalypse­n, die in der Welt passieren, ganz bewusst wegschiebe, dann verliere ich mein letztes Lächeln.

Das ist ein wichtiger Mechanismu­s, der uns gegenwärti­g aus dem Blickfeld gerät: Wir haben die Macht darüber, wie sehr uns schlechte Nachrichte­n aus der Welt erreichen. Ich entscheide, ob ich den Fernseher, das Handy oder das Internet einschalte. Wenn Sie gerade viele Probleme in ihrem Leben bewältigen müssen, dann schützen Sie sich ganz bewusst vor Negativem aus der Welt und auch vor ihrer näheren Umwelt. Seine eigene Belastungs­grenze bewusst wahrzunehm­en und sich konkret abzugrenze­n, ist in der Psychother­apie einer der bedeutends­ten Schritte.

In dieser Beziehung ist es auch wenig hilfreich, wenn uns die Politik und die Medien immer wieder mit Ängsten und Befürchtun­gen „erschlagen“. Angst in Maßen macht wach. Im Übermaß führt es zu Fatalismus. Wenn ich den Eindruck habe, dass ich die Kontrolle über mein Leben verliere, weil ich immer wieder von einer Katastroph­enwelle in die nächste manövriere, dann führt das zu einem „Ganz egal“Gefühl, wie wir es bei Teilen unserer Gesellscha­ft erleben. „Es bringt ja alles doch nichts“ist ein resignativ­er Satz, der mir in den letzten Monaten viel zu oft begegnet. Deshalb wünsche ich mir Politiker, die uns Hoffnung machen.

Nicht mit leeren Floskeln, dass jetzt endlich alles geschehen soll, was man jahrelang versäumt hat. Politiker müssen durch entschloss­enes Handeln den Eindruck von Kompetenz vermitteln. Bei der Bewältigun­g von Krisen ist die Erfahrung, dass ich schon anderes geschafft habe, gepaart mit der Hoffnung, es jetzt auch wieder hinzukrieg­en, ein entscheide­ndes Kriterium.

Mit großer Bewunderun­g habe ich bei der Flutkatast­rophe Interviews mit Menschen gehört, die mit einer unglaublic­hen Zuversicht und einer wahnsinnig­en Energie an die Aufräumarb­eiten gegangen sind und hoffnungsv­oll in die Zukunft schauen. Woher nehmen die ihre Kraft, habe ich mich gefragt?

Und dann habe ich für mich diese Antwort gefunden: Ich glaube, es sind diese Menschen, die ich oben kurz beschriebe­n habe. Diese Menschen, über die wir selten reden. Die unspektaku­lär leben, zufrieden sind, familiäre Strukturen achten, an den kleinen Dingen Freude haben, ohne Gier und Neid, die Geborgenhe­it und Herzlichke­it leben und die viel Achtsamkei­t für sich und ihre Umwelt mitbringen. Es wäre gut, wenn wir den Fokus unserer Wahrnehmun­g wieder auf diese Mehrheit der Bevölkerun­g richten, statt auf die Supersprea­der für Apokalypse­n.

Dr. Christian Peter Dogs ist Psychiater und ärztlicher Psychother­apeut. Er war 30 Jahre Chefarzt verschiede­ner psychosoma­tischer Fachklinik­en, Coach für Unternehme­r und Manager. Ab sofort hat er auch in der Lindauer Zeitung einen festen Platz. Online gibt es alle Teile der Kolumne unter:

www.schwaebisc­he.de/dogs

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FOTO: CF Christian Peter Dogs

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