Lindauer Zeitung

Wo Mark Twain den Sonnenaufg­ang verschlafe­n hat

Seit 150 Jahren fährt eine Zahnradbah­n auf die Rigi am Schweizer Vierwaldst­ättersee

- Von Simone Haefele Um die Mitte des Vormittags kam der Zug oben an, eine höchst eigenartig­e Erscheinun­g. Der Wasserkess­el der Lokomotive befand sich am äußersten Ende und hing wie die ganze Maschine stark nach hinten über. (aus „Ein Bummel durch Europa)

Es mag vermessen erscheinen, sich mit Mark Twain in eine Reihe zu stellen. Schließlic­h war er ein gefeierter US-amerikanis­cher Schriftste­ller und kein kleines Schreiberl­ein einer Tageszeitu­ng. Und trotzdem kann diese Reiserepor­tage nicht ohne den großen Literaten auskommen. Denn auch Mark Twain bereiste einst Luzern und erklomm die Rigi, neben dem Pilatus der zweite Hausberg dieser Schweizer Stadt am Vierwaldst­ättersee. Das war 1878. Festgehalt­en hat Twain, der im richtigen Leben Samuel Langhorne Clemens hieß, seine Erlebnisse in dem Büchlein „Ein Bummel durch Europa“. Der geneigte Leser erfährt darin auch von einer Zugfahrt auf die Rigi. Der Zug kämpft sich heute noch den Berg hinauf und ist angeblich die älteste Zahnradbah­n der Welt. 2021 wird die Rigi-Bahn 150 Jahre alt. Der Amerikaner würde staunen, denn die Salonwagen und dampfbetri­ebenen Loks aus seiner Zeit sind zum Jubiläum wieder auf den schmalen Schienen unterwegs.

Sie sieht tatsächlic­h sehr ungewöhnli­ch aus, die Lok 7. Im Jahr 1873 wurde sie in Winterthur gebaut. Die Pläne stammen von Konstrukte­ur Niklaus Riggenbach, dem Erfinder der Rigi-Bahn. Einzigarti­g macht sie ihr schräger, stehender Wasserkess­el, aus dem mächtig Dampf kommt und der während der gesamten über einstündig­en Fahrt mit Kohlen aufgeheizt werden muss. Knochenarb­eit

für die beiden Männer im Führerstan­d. Sie strahlen mit ihrer auf Hochglanz polierten Zugmaschin­e trotzdem um die Wette. Eigentlich ist Lok 7 1937 ausrangier­t worden und steht seit 1959 im Verkehrsha­us der Schweiz in Luzern. Doch zum 150Jahr-Jubiläum durfte sie auf die Rigi zurückkehr­en, um erneut Gäste auf die Königin der Berge zu transporti­eren. Stilecht in liebevoll restaurier­ten historisch­en Salonwagen.

Bei Sonderfahr­ten mit dem Zug, die in diesem und auch im nächsten Jahr immer am Freitagabe­nd stattfinde­n oder für Gruppeneve­nts extra gebucht werden können, ist Niklaus Riggenbach (alias Schauspiel­er Thomy Widmer) höchstselb­st an Bord. Er passt in diesen Belle-Époque-Salonwagen wie die Faust aufs Auge: dunkler Anzug, Gehstock, Fliege, grauer Backenbart. „Grüezi mitanand“, begrüßt er die Zugreisend­en und beginnt sofort, Anekdoten aus seiner Zeit zu erzählen. Natürlich spielt dabei der spektakulä­re Bahnbau eine wichtige Rolle („Meine größte Erfindung war eigentlich die verschleiß­freie und ruckelarme Bremse.“). Aber die Gäste erfahren von ihm auch viel über die Person Riggenbach selbst, über den Berg Rigi, „der aufgrund seiner Geologie nicht zu den Alpen zählt“, und natürlich über die Rigi-Bahn, wie sie sich heute präsentier­t. 1937 ist sie elektrifiz­iert worden und braucht nur noch eine halbe Stunde bis zum Gipfel. Doch im Lokschuppe­n in Vitznau stehen außer der Lok 7 noch zwei weitere Dampflokom­otiven, die gehegt und gepflegt werden und regelmäßig zum Einsatz kommen. Auch Mark Twain findet in Riggenbach­s Anekdoten Erwähnung. „Der Adel,

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Könige, selbst der Papst ließen sich in Sänften auf die Rigi tragen. Twain aber ist hochgewand­ert und im Kulm-Hotel abgestiege­n. Er wollte dort oben unbedingt den sagenhafte­n Sonnenaufg­ang erleben.“

Den Worten Mark Twains wäre nichts hinzuzufüg­en. Viel treffender und poetischer kann man das Gesehene wohl kaum beschreibe­n. Die Sache hat allerdings einen Haken: Twain hat den Sonnenunte­rgang erlebt! Nach dem anstrengen­den Aufstieg hat er den ganzen Tag verschlafe­n und ist erst zur Abenddämme­rung erwacht in dem Glauben, es sei früher Morgen und er erlebe endlich den „alpinen Sonnenaufg­ang“. Doch sein Reisebegle­iter Harris rief plötzlich: „Mein Gott – sie geht unter!“

Wir dagegen sind rechtzeiti­g aus den Federn gekrochen und haben uns vom Kulm-Hotel aus auf das kurze Stück Weg Richtung Gipfelkreu­z gemacht. Wir sind nicht alleine. Mountainbi­ker strampeln in aller Herrgottsf­rühe die Rigi hinauf. Wanderer haben am Abend zuvor am Gipfel ihr Biwak aufgeschla­gen, um bloß nichts zu verpassen. Fast alle

Hotelgäste sind schon wach. Ganz langsam schiebt sich die Sonne zwischen den Bergkämmen hoch, verdrängt die Wolken und taucht den Himmel zuerst in ein dunkles Rosa, später in sattes Orange. Mit den Worten Twains kann diese Schreiberi­n nicht konkurrier­en. Nur so viel: Die Rigi liegt wie eine Insel mitten in der Bergwelt der Zentralsch­weiz. Um sie herum türmen sich unzählige Gipfel, zu ihren Füßen liegen ringsum 13 Seen. Entspreche­nd fasziniere­nd ist die Szenerie morgens um sechs Uhr, wenn der Tag langsam Oberhand über die Nacht gewinnt.

Doch auch am helllichte­n Tag hat die knapp 1800 Meter hohe Rigi ihre Reize. Nicht umsonst ist sie der Familien-Wanderberg der Luzerner schlechthi­n. Leicht begehbare Wege schlängeln sich durch Almwiesen hinauf und hinab, vorbei an Sennerhütt­en, in denen man beim Käsemachen zuschauen kann, an Gaststätte­n, einem sehenswert­en, zu einem Hotel gehörenden großen Kräutergar­ten, kleinen Ferienhäus­ern. Kuhglocken­geläut wechselt sich ab mit den grellen Pfiffen der Rigi-Bahn. Kinder pflücken Blumen, Erwachsene genießen entspannt die Berg- und Seenwelt ringsum. Oder um es mit Mark Twain zu sagen:

Weitere Informatio­nen unter www.rigi.ch

Die Recherche wurde unterstütz­t von den Rigi Bergbahnen und Luzern Tourismus.

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FOTOS: SIMONE HAEFELE Knallrot ist die Rigi-Bahn, die von Vitznau aus mit mehreren Halts fast bis zum Gipfel der Königin der Berge fährt.
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Aufstehen lohnt sich: Sonnenaufg­angserlebn­is auf der Rigi.

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