Wie behindertenfreundlich ist die Therme?
Die zwölfjährige Ricarda Wintermantel und ihre Mutter machen für die LZ den Test
- Als ihre Mama sie die Rampe zur Therme hochschiebt, leuchten die Augen von Ricarda Wintermantel. Wie die meisten Zwölfjährigen liebt sie es, zu baden. Was sie von den meisten Zwölfjährigen unterscheidet: Ricarda ist zu hundert Prozent geistig behindert, hat Epilepsie und kann nur wenige Schritte im Arm ihrer Mutter gehen. Sie ist auf den Rollstuhl angewiesen. Und mit dem testet sie gemeinsam mit ihrer Mutter für die LZ, ob die neue Therme für Menschen mit Behinderung geeignet ist. Das Fazit fällt eindeutig aus.
Von den kostenlosen Parkplätzen direkt am Gebäude führt eine Rampe in den großzügigen Eingangsbereich, in dem der Aufzug gut sichtbar ist. Die Kassen sind im ersten Stock, Ricarda und ihre Mama Damaris Wintermantel verabschieden sich, denn neben dem Rollstuhl passt nur eine weitere Person mit Badetasche gerade noch so in den Aufzug. An den Kassen angekommen, gibt es den ersten Dämpfer: Als Begleitperson muss die Mama den vollen Eintrittspreis bezahlen. Dabei wird Damaris Wintermantel in den kommenden zwei Stunden keine Sekunde für sich entspannen können. „Ricarda ist auf dem Stand eines ein- bis zweijährigen Kindes. Sie kann Situationen nicht selbstständig einschätzen und sie kann nur wenige Worte sprechen und nur ein paar Schritte selbstständig gehen.“
In anderen Thermen oder Freizeiteinrichtungen seien die Begleitpersonen oft kostenlos, sagt Tom Hermann, der beim inklusiven Ferienhaus Hand in Hand arbeitet. Er hat in der vergangenen Woche mit einer Gruppe Rollstuhlfahrer die Therme besucht und danach im sozialen Netzwerk Facebook einiges bemängelt. „Wir waren fünf Rollstuhlfahrer mit vier Betreuern, das hat für vier Stunden 250 Euro gekostet“, sagt er.
Das könnten sich viele gar nicht leisten. Wenn, dann lohne sich für Menschen mit körperlicher Behinderung aber ohnehin eigentlich nur eine Tageskarte, denn es dauert eben alles etwas länger. „Wir haben das letzte Mal allein fürs Rein- und Rausgehen, Umziehen und Bezahlen eineinhalb Stunden gebraucht“, sagt Tom Hermann.
Wie auch die Gruppe um Tom Hermann vor einigen Tagen bekommen Ricarda und ihre Begleiter zusätzlich zum Zwei-Stunden-Eintritt eine Stunde geschenkt. Allerdings ist Ricarda gut vorbereitet, sie hat ihre Badesachen schon drunter. Sie lacht die ganze Zeit, die Vorfreude steigt. „Das ist jetzt schon ein Erlebnis für sie“, sagt ihre Mutter. „Die vielen Menschen, die vielen neuen Eindrücke.“
Für Ricarda und ihre Mama geht es in eine der drei großen FamilienUmkleidekabinen. „Die sind top“, sagt Damaris Wintermantel. Neben viel Platz bieten sie eine breite Liege aus Kunstleder, wo Ricarda gewiman ckelt werden kann. Ebenso begeistert ist die ausgebildete Sozialpädagogin Damaris Wintermantel von den Toiletten und Duschen für Menschen mit Behinderung. „Da ist genug Platz, dass ich mit Ricarda gemeinsam duschen kann.“
Richtung Sportbad geht es wieder mit dem Aufzug. Dort angekommen, überlegt Damaris Wintermantel, wie sie Ricarda ins Becken bekommen würde. „Dafür müssten wir mindestens zu zweit sein“, sagt sie. „Dann würde ich Ricarda an den Beckenrand setzten und der andere würde sie im Wasser in Empfang nehmen.“Das geht aber nur, wenn das Wasser niedrig genug ist, sodass die Person im Becken stehen kann.
Einen festen Aufzug gibt es am Sportbecken nicht. „Der würde da aber auch nicht hinpassen“, räumt Damaris Wintermantel ein. Eine richtig gute Lösung, wie man das Sportbecken dauerhaft barrierefrei zugänglich machen könnte, fällt ihr auch nicht ein. „Das ist in anderen Bädern aber auch nicht besser gelöst“, sagt sie. „Wir improvisieren oft mit der eigenen Körperkraft.“
Allerdings will Ricarda hier gar nicht ins Wasser – denn es ist ihr schlicht zu kalt. Und der Wildbach, neben der großen Rutsche die Attraktion für Kinder, ist für Ricarda zu wild, wie Tom Hermann nach einem kurzen Test feststellt. Das macht der Zwölfjährigen aber überhaupt nichts: Sie jauchzt vor Freude, als sie den anderen Kindern zusieht, wie sie sich kreischend in den Wildbach stürzen. „Wären ihre drei Schwestern jetzt dabei, dann würden wir uns unten hinstellen und ihnen zuschauen, wie sie runterkommen“, sagt die Mama.
Über eine lange Rampe geht es weiter in Richtung Außenbereich und Strandbad, zwei schmale Buben können sich gerade so an Ricardas Rollstuhl vorbei quetschen. Weil der Bereich gewechselt wird, sind die Schlüsselarmbänder nötig, mit denen die sogenannten Speedgates geöffnet werden. Sie wurden extra anstelle von Drehkreuzen eingebaut, um die Übergänge in der Therme barrierefrei zu machen. „Optimal“, sagt Damaris Wintermantel, während sie Ricarda schwungvoll durchs Törchen schubst, bevor sie mit ihrem eigenen Schlüssel hinterhergeht.
Draußen gibt es ein Kinderbecken, mit einer Wassertemperatur, die Ricarda toll findet. Was ihrer Mutter nicht gefällt: Direkt neben dem Kinderbecken ist der Kiosk, wo an warmen Tagen viele Menschen anstehen, essen und trinken. Viel Platz ist nicht. „Wenn hier voll ist, dann kommen wir nicht mehr durch.“
Weiter geht es in Richtung Außenbereich bei der Therme. Die Wege draußen sind gerade so breit, dass Ricardas Rollstuhl durchpasst. „Wenn uns jemand entgegen kommen würde, dann müsste ich ausweichen und hätte dreckige Räder“, sagt Damaris Wintermantel – dann ist Schluss. Ein Drehkreuz versperrt den Übergang zwischen Strandbadund Thermenbereich. „Da kommen wir nicht durch“, stellt die Mutter nüchtern fest.
Zumindest nicht mit Rollstuhl. Also beschließt sie kurzerhand, den Rollstuhl stehen zu lassen und Ricarda gemeinsam mit Tom Hermann irgendwie selbst durchs Drehkreuz zu bringen. Da taucht Badbetreiber Andreas Schauer auf und erklärt, wie barrierefrei in den Thermenbereich kommt: Indem man den ganzen Weg zurückläuft. Vorbei am 50-Meter-Becken im Strandbad, zurück durchs Speedgate, vorbei am 25-Meter-Sportbecken und am Kursbecken – bis zum nächsten Speedgate, dem Einlass zum Thermenbereich.
Hier hat das Wasser die Temperatur, die Ricarda gefällt. Nur, wie sie ins große, warme Becken kommt, weiß keiner: Nach oben führen zwei Stufen, für Ricarda ein großes Hindernis. Und einfach hinein hieven kann Damaris Wintermantel ihre Tochter gemeinsam mit Tom Hermann auch nicht: Rings um den Pool stehen Liegestühle, die meisten sind besetzt.
Tom Hermann macht sich auf, Mitarbeiter zu suchen, denn es soll einen mobilen Lift für alle Becken geben. Die Minuten vergehen. „Jetzt stehen wir hier und werden angeschaut“, sagt Damaris Wintermantel. Ricarda scheint es nicht zu stören, sie beobachtet die anderen Thermenbesucher ebenfalls und lacht die ganze Zeit. Da kommt ein freundlicher Thermen-Mitarbeiter und bietet Hilfe dabei an, Ricardas Rollstuhl die zwei Stufen zum Becken hoch zu tragen. Endlich ist das Mädchen mit seiner Schwimmweste im Wasser – und seelig. Sie erntet Blicke, aber freundliche.
„Mit Ricarda ist es einfach“, sagt ihre Mutter. „Sie ist immer fröhlich.“Aber sie achte auch darauf, dass ihr Kind immer ordentlich aussehe – um missgünstigen Blicken vorzubeugen. „Die Leute wollen hier ja auch entspannen.“
Da kommen die Mitarbeiter mit Lift. Sie verrücken Liegestühle. Und auch, wenn sie das Gerät offenbar noch nicht sehr oft aufgebaut haben – es steht dann doch recht schnell. Ricarda möchte es nun natürlich auch testen. Sie strahlt, als sie im Tuch ins Wasser gelassen wird. Eigentlich möchte sie gar nicht mehr aussteigen. Tut sie dann aber doch. „Kann ich den Lift auch allein bedienen?“, fragt Damaris Wintermantel, als die Thermen-Mitarbeiter wieder gehen. Nein, sie solle dann einfach Bescheid geben, sagen die Männer, und verlassen den Raum. Da muss die Mama lachen. „Wie stellen die sich das vor, wenn ich allein hier bin? Soll ich mein Kind kurz allein im Wasser lassen, um sie zu holen?“So etwas passiere ihr andauernd.
Gemeinsam mit Tom Hermann bringt sie Ricarda schließlich wieder über den Beckenrand aus dem Wasser und zurück in den Rollstuhl. Der ist mittlerweile nass, es hätte aber auch Alternativen gegeben, wie Damaris Wintermantel begeistert feststellt: Duschrollstühle, die sogar eine Öffnung für die Toilette haben. „Das ist wirklich das Modernste, was es auf dem Markt gibt“, sagt sie.
Ricardas Badeausflug ist vorbei – aber sicher nicht der letzte gewesen. „Wir kommen auf jeden Fall wieder“, sagt Damaris Wintermantel. Sie wird die neue Therme auch anderen Familien, die ein Kind mit Behinderung haben, empfehlen. Natürlich sei nicht alles perfekt – aber vieles sei im neuen Bad schon gut umgesetzt. „Im Austausch miteinander lassen sich dann passende, individuelle Lösungen finden“, sagt Wintermantel. Was ihr gut gefallen hat: Dass das Personal offen für Anregungen war.
„Im wirklichen Leben verzichten wir auf ganz viel“, sagt Damaris Wintermantel. Beim nächsten ThermenBesuch werden Ricardas Papa und ihre drei Schwestern dabei sein. Dann wird Ricarda ihren Schwestern dabei zusehen, wie sie den Wildbach hinunter düsen. Denn ein bisschen, so ihre Mama, sei das alles auch Einstellungssache. „Wie heißt es doch so schön: Man wächst mit seinen Aufgaben.“
Dass Ricarda und ihre Mutter im Außenbereich der Therme vor einem Drehkreuz haltmachen mussten, erklärt Investor und Betreiber des Bads, Andreas Schauer, wie folgt: „Es gibt leider noch keine zugelassenen Speedgates für Außenbereiche. Aber alle Bereiche sind barrierefrei erreichbar (zum Beispiel das Außenbecken Therme über den Innenbereich Therme). Begleitpersonen von Menschen mit Behinderung dürfen tatsächlich nicht grundsätzlich kostenfrei in Therme und Strandbad: „Begleitpersonen erhalten im Sport- und Familienbad den Kindertarif und in der Therme/ Sauna eine Stunde Zeitgutschrift“, schreibt Schauer. So war es auch bei Ricarda und ihrer Mutter. „Sollte die Begleitperson die Anlage nicht nutzen, ist die Begleitperson kostenfrei“, schreibt Schauer allerdings weiter. Kinder mit Behinderung dürften außerdem kostenlos ins Sport- und Familienbad.
Schauer legt außerdem dar, wie viel die Barrierefreiheit der Therme ungefähr gekostet hat. „Die Investition in die Barrierefreiheit floss in die Gesamtinvestition der Therme ein“, schreibt er auf Nachfrage. Exakt könne das nicht beziffert werden, da ja zum Beispiel Aufzüge nicht nur wegen der Barrierefreiheit gebaut werden. „Aber insgesamt sind das schon circa 750 000 Euro.“
Die Zusatzinvestitionen „wegen nachträglicher Wünsche Behindertenbeauftragter“haben weitere 125 000 Euro gekostet, so Schauer. Davon habe die Stadt Lindau anteilsmäßig 56 000 Euro getragen.
Jürgen Widmer, Sprecher der Stadt, bestätigt die Summe. Außerdem habe die Stadt weitere 22 000 Euro für größere Umkleiden im Strandbad investiert. (jule)