Mehr Partys, aber auch mehr Gewalt?
Nach brutalen Schlägerattacken schätzen Polizei, Jugendrichterin und Jugendarbeit die Situation ein
- Erst die Attacken im Lindenhofpark, dann folgte die stumpfe Gewalt am Bahndamm. Die Polizei scheint mit ihren Ermittlungen festzustecken und kündigt an, die PartySituation an öffentlichen Plätzen beruhigen zu wollen. Denn diese sei so massiv wie lange nicht.
Das ist bisher passiert: Schon den ganzen Sommer über feiern viele Jugendliche im Freien. Ende Juli sind viele im Lindenhofpark, um den Start der Sommerferien zu begießen – bis eine Gruppe von zehn bis 15 Jugendlichen auftritt und wahllos auf andere einprügelt. Laut Polizei schlagen und treten die Angreifer gegen Köpfe ihrer Opfer, teilweise auch dann, wenn diese schon am Boden liegen. Ein 17-Jähriger muss ins Krankenhaus. Vergangene Woche dann erneut stumpfe Gewalt. Drei Jugendliche greifen zwei junge Touristen an, die nachts auf dem Weg zu ihrer Ferienwohnung sind. Laut Polizei traten die Angreifer auch hier auf die Köpfe der Opfer ein. Ob in beiden Fällen die gleichen Täter zugeschlagen haben, darüber lasse sich nur spekulieren, sagt Bernhard Merkel, Chef der Kriminalpolizei Lindau.
Im Fall der Lindenhofpark-Angriffe hat die Kriminalpolizei eine Gruppe identifiziert, ermittelt aber derzeit noch, ob die Täter wirklich aus dieser Gruppe stammen und wer wie beteiligt war. Zum Angriff auf dem Bahndamm gibt es ebenfalls keinen neuen Ermittlungsstand, sagt Merkel. „Es laufen die Vernehmungen.“
In beiden Fällen sei die Kriminalpolizei darauf angewiesen, dass sich Leute melden, die etwas über den Tathergang sagen können oder sogar Täter identifizieren. Man brauche schlicht Zeugen, denn Spuren würden sich bei diesen Fällen nur schwer auswerten lassen, sagt Merkel. In dieser Lage hat die Kriminalpolizei sogar extra eine Webseite erstellt, auf der Zeugen anonym Bild- und Videomaterial von den Taten hochladen können. Merkel geht davon aus, dass es durchaus Jugendliche geben könnte, die während der Taten mit ihren Handykameras draufgehalten haben, diese Informationen nun aber zurückhalten. Bisher ist über die Webseite jedenfalls kein einziges Bild, Video und keine Aussage eingegangen.
Merkel sei durchaus schockiert über die Art der Gewalt, einen negativen Trend in Lindau will er aber nicht erkennen. Bereits 2019 habe es auf dem Jahrmarkt einen ähnlichen Fall mit Tritten gegen den Kopf gegeben, erinnert der Kriminalpolizist. Nur weil es in diesem Jahr kurz hintereinander und geballt auftritt, bedeutet das noch kein gesteigertes Gewaltpotenzial.
Auch Polizeichef Thomas Steur sagt, dass nur auffällig sei, dass die Taten so kurz hintereinander passiert sind. Er hält nichts von voreiligen Schlüssen bei der Frage, ob die Gewaltbereitschaft der Lindauer Jugend zunehme. Er vermutet, dass die subjektive Wahrnehmung der Lindauerinnen und Lindauer anders ist, da die Gewalt im Vergleich zu früher weniger in Kneipen, sondern auf offener Straße stattfinde.
Es werde einfach auch mehr darüber berichtet, sagt Brigitte Grenzstein, Jugendrichterin und Leiterin des Lindauer Amtsgerichts. „Ich kann nicht beobachten, dass sich Vorfälle häufen oder Gewalttätigkeiten zugenommen haben.“
Was laut Polizeichef Thomas Steur tatsächlich spürbar gestiegen ist, sind die Partys an öffentlichen Plätzen – mit denen die Gewalttaten in Zusammenhang stehen. „In all meinen Jahren bei der Polizei habe ich diese Treffpunkte im Freien noch nicht so massiv erlebt“, sagt Steur. Viele Jugendliche würden derzeit sogar aus Nachbargemeinden nach Lindau kommen.
Diese Steigerung sei wohl dem Lockdown geschuldet und den lange geschlossenen Lokalitäten, sagt Steur –„die versuchen, etwas nachzuholen“. So schätzt das auch Jugendrichterin Grenzstein ein. Auch in Stuttgart und München trafen sich vor allem am Sommeranfang Massen von Jugendlichen und jungen Menschen, die die Polizei vor eine Herausforderung stellten. Es ist also kein Lindauer Phänomen.
Nach den Attacken im Lindenhofpark hat Thomas Steur stärkere Kontrollen der feiernden Gruppen angekündigt. Die gesteigerte Präsenz der Lindauer Polizei mit Unterstützung der bayerischen Bereitschaftspolizei sorgt laut Polizeichef dafür, dass weniger Jugendliche im Lindenhofpark feiern – dafür ziehen nun viele auf die Insel. Vor allem auf die Sternschanze und rund um den Sina-Kinkelin-Platz. „Die Jugendlichen sind ’not amused’ über die Kontrollen“, berichtet Steur von den Einsätzen. Dass Beamte von Gruppen angegriffen werden, wie in anderen deutschen Städten, das habe es aber nicht gegeben. Das öffentliche Feiern verbieten – das kann und will Steur nicht. „Es gibt kein Verweil-Verbot und auch kein Alkoholverbot.“Die Polizei sei daher präventiv tätig. Obwohl laut Steur die meisten Feiernden friedlich sind und sich einfach nur mit Gleichaltrigen treffen wollen, behalte die Polizei die Gruppen weiter im Auge. „Und wir setzen alles daran, dass eine ruhigere Lage eintritt. Heißt, dass friedlich gefeiert wird und am besten nicht mehr so geballt in Massen.“
Theresa Berschl und Benjamin Taylor von der städtischen Jugendarbeit meinen, schon zu ihrer Jugendzeit hätten mindestens genau so viele Menschen auf der Insel gefeiert wie jetzt. Auch Gewalt habe es damals schon gegeben. „Ich glaube, dass es einigen nur mehr vorkommt, weil man das jetzt zwei Jahre lang nicht gewohnt war“, sagt Taylor. Berschl fügt an: Wenn die Gruppen von der Polizei immer wieder verdrängt werden, beispielsweise weg vom Lindenhofpark, würden die Jugendlichen näher aufeinanderrücken. Das lasse die Situation massiver erscheinen und berge Konfliktpotenzial.
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Die zwei verurteilen die Prügelattacken und Müllberge, dennoch seien die Partys kein Hort der Gewalt und dürften nicht verdammt werden. Es gehöre eben zur Sozialisierung dazu, sich in Gruppen zu bewegen, zu feiern und Grenzen zu erleben, sagt Berschl. „Man muss diese Grenzen ja nicht einmal selbst erleben. Wenn jemand bei diesen Partys beobachtet, wie jemand anderes über den Durst trinkt, merkt diese Person vielleicht, dass sie das nicht will.“
Die Jugendarbeit führt bereits Gespräche mit Alexandra AbbrederisSimpson, Leiterin der städtischen Projektstelle Bürgerbeteiligung. Im kommenden Jahr soll es eine Beteiligung zum Thema „Raum für Jugendliche“geben. Bis dahin wollen die Jugendarbeiter mit AbbrederisSimpson die Beteiligung für junge Lindauerinnen und Lindauer attraktiver machen.
Berschl glaubt, wenn die Jugend einen eigenen Ort oder eine Hütte hätte, den oder die sie mitgestalten, würden sie diesen anders wertschätzen und pflegen. Das Thema sei bereits in den unterschiedlichsten Institutionen Lindaus und auch in der Stadtverwaltung bekannt, sagt Berschl. Sie scheint optimistisch: „Das wird schon immer mitgedacht. Beispielsweise wurde für den KarlBever-Platz schon überlegt, wie man einen Platz für Jugendliche mit einplanen kann.“