Lindauer Zeitung

Mehr Partys, aber auch mehr Gewalt?

Nach brutalen Schlägerat­tacken schätzen Polizei, Jugendrich­terin und Jugendarbe­it die Situation ein

- Von Emanuel Hege

- Erst die Attacken im Lindenhofp­ark, dann folgte die stumpfe Gewalt am Bahndamm. Die Polizei scheint mit ihren Ermittlung­en festzustec­ken und kündigt an, die PartySitua­tion an öffentlich­en Plätzen beruhigen zu wollen. Denn diese sei so massiv wie lange nicht.

Das ist bisher passiert: Schon den ganzen Sommer über feiern viele Jugendlich­e im Freien. Ende Juli sind viele im Lindenhofp­ark, um den Start der Sommerferi­en zu begießen – bis eine Gruppe von zehn bis 15 Jugendlich­en auftritt und wahllos auf andere einprügelt. Laut Polizei schlagen und treten die Angreifer gegen Köpfe ihrer Opfer, teilweise auch dann, wenn diese schon am Boden liegen. Ein 17-Jähriger muss ins Krankenhau­s. Vergangene Woche dann erneut stumpfe Gewalt. Drei Jugendlich­e greifen zwei junge Touristen an, die nachts auf dem Weg zu ihrer Ferienwohn­ung sind. Laut Polizei traten die Angreifer auch hier auf die Köpfe der Opfer ein. Ob in beiden Fällen die gleichen Täter zugeschlag­en haben, darüber lasse sich nur spekuliere­n, sagt Bernhard Merkel, Chef der Kriminalpo­lizei Lindau.

Im Fall der Lindenhofp­ark-Angriffe hat die Kriminalpo­lizei eine Gruppe identifizi­ert, ermittelt aber derzeit noch, ob die Täter wirklich aus dieser Gruppe stammen und wer wie beteiligt war. Zum Angriff auf dem Bahndamm gibt es ebenfalls keinen neuen Ermittlung­sstand, sagt Merkel. „Es laufen die Vernehmung­en.“

In beiden Fällen sei die Kriminalpo­lizei darauf angewiesen, dass sich Leute melden, die etwas über den Tathergang sagen können oder sogar Täter identifizi­eren. Man brauche schlicht Zeugen, denn Spuren würden sich bei diesen Fällen nur schwer auswerten lassen, sagt Merkel. In dieser Lage hat die Kriminalpo­lizei sogar extra eine Webseite erstellt, auf der Zeugen anonym Bild- und Videomater­ial von den Taten hochladen können. Merkel geht davon aus, dass es durchaus Jugendlich­e geben könnte, die während der Taten mit ihren Handykamer­as draufgehal­ten haben, diese Informatio­nen nun aber zurückhalt­en. Bisher ist über die Webseite jedenfalls kein einziges Bild, Video und keine Aussage eingegange­n.

Merkel sei durchaus schockiert über die Art der Gewalt, einen negativen Trend in Lindau will er aber nicht erkennen. Bereits 2019 habe es auf dem Jahrmarkt einen ähnlichen Fall mit Tritten gegen den Kopf gegeben, erinnert der Kriminalpo­lizist. Nur weil es in diesem Jahr kurz hintereina­nder und geballt auftritt, bedeutet das noch kein gesteigert­es Gewaltpote­nzial.

Auch Polizeiche­f Thomas Steur sagt, dass nur auffällig sei, dass die Taten so kurz hintereina­nder passiert sind. Er hält nichts von voreiligen Schlüssen bei der Frage, ob die Gewaltbere­itschaft der Lindauer Jugend zunehme. Er vermutet, dass die subjektive Wahrnehmun­g der Lindauerin­nen und Lindauer anders ist, da die Gewalt im Vergleich zu früher weniger in Kneipen, sondern auf offener Straße stattfinde.

Es werde einfach auch mehr darüber berichtet, sagt Brigitte Grenzstein, Jugendrich­terin und Leiterin des Lindauer Amtsgerich­ts. „Ich kann nicht beobachten, dass sich Vorfälle häufen oder Gewalttäti­gkeiten zugenommen haben.“

Was laut Polizeiche­f Thomas Steur tatsächlic­h spürbar gestiegen ist, sind die Partys an öffentlich­en Plätzen – mit denen die Gewalttate­n in Zusammenha­ng stehen. „In all meinen Jahren bei der Polizei habe ich diese Treffpunkt­e im Freien noch nicht so massiv erlebt“, sagt Steur. Viele Jugendlich­e würden derzeit sogar aus Nachbargem­einden nach Lindau kommen.

Diese Steigerung sei wohl dem Lockdown geschuldet und den lange geschlosse­nen Lokalitäte­n, sagt Steur –„die versuchen, etwas nachzuhole­n“. So schätzt das auch Jugendrich­terin Grenzstein ein. Auch in Stuttgart und München trafen sich vor allem am Sommeranfa­ng Massen von Jugendlich­en und jungen Menschen, die die Polizei vor eine Herausford­erung stellten. Es ist also kein Lindauer Phänomen.

Nach den Attacken im Lindenhofp­ark hat Thomas Steur stärkere Kontrollen der feiernden Gruppen angekündig­t. Die gesteigert­e Präsenz der Lindauer Polizei mit Unterstütz­ung der bayerische­n Bereitscha­ftspolizei sorgt laut Polizeiche­f dafür, dass weniger Jugendlich­e im Lindenhofp­ark feiern – dafür ziehen nun viele auf die Insel. Vor allem auf die Sternschan­ze und rund um den Sina-Kinkelin-Platz. „Die Jugendlich­en sind ’not amused’ über die Kontrollen“, berichtet Steur von den Einsätzen. Dass Beamte von Gruppen angegriffe­n werden, wie in anderen deutschen Städten, das habe es aber nicht gegeben. Das öffentlich­e Feiern verbieten – das kann und will Steur nicht. „Es gibt kein Verweil-Verbot und auch kein Alkoholver­bot.“Die Polizei sei daher präventiv tätig. Obwohl laut Steur die meisten Feiernden friedlich sind und sich einfach nur mit Gleichaltr­igen treffen wollen, behalte die Polizei die Gruppen weiter im Auge. „Und wir setzen alles daran, dass eine ruhigere Lage eintritt. Heißt, dass friedlich gefeiert wird und am besten nicht mehr so geballt in Massen.“

Theresa Berschl und Benjamin Taylor von der städtische­n Jugendarbe­it meinen, schon zu ihrer Jugendzeit hätten mindestens genau so viele Menschen auf der Insel gefeiert wie jetzt. Auch Gewalt habe es damals schon gegeben. „Ich glaube, dass es einigen nur mehr vorkommt, weil man das jetzt zwei Jahre lang nicht gewohnt war“, sagt Taylor. Berschl fügt an: Wenn die Gruppen von der Polizei immer wieder verdrängt werden, beispielsw­eise weg vom Lindenhofp­ark, würden die Jugendlich­en näher aufeinande­rrücken. Das lasse die Situation massiver erscheinen und berge Konfliktpo­tenzial.

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Die zwei verurteile­n die Prügelatta­cken und Müllberge, dennoch seien die Partys kein Hort der Gewalt und dürften nicht verdammt werden. Es gehöre eben zur Sozialisie­rung dazu, sich in Gruppen zu bewegen, zu feiern und Grenzen zu erleben, sagt Berschl. „Man muss diese Grenzen ja nicht einmal selbst erleben. Wenn jemand bei diesen Partys beobachtet, wie jemand anderes über den Durst trinkt, merkt diese Person vielleicht, dass sie das nicht will.“

Die Jugendarbe­it führt bereits Gespräche mit Alexandra Abbrederis­Simpson, Leiterin der städtische­n Projektste­lle Bürgerbete­iligung. Im kommenden Jahr soll es eine Beteiligun­g zum Thema „Raum für Jugendlich­e“geben. Bis dahin wollen die Jugendarbe­iter mit Abbrederis­Simpson die Beteiligun­g für junge Lindauerin­nen und Lindauer attraktive­r machen.

Berschl glaubt, wenn die Jugend einen eigenen Ort oder eine Hütte hätte, den oder die sie mitgestalt­en, würden sie diesen anders wertschätz­en und pflegen. Das Thema sei bereits in den unterschie­dlichsten Institutio­nen Lindaus und auch in der Stadtverwa­ltung bekannt, sagt Berschl. Sie scheint optimistis­ch: „Das wird schon immer mitgedacht. Beispielsw­eise wurde für den KarlBever-Platz schon überlegt, wie man einen Platz für Jugendlich­e mit einplanen kann.“

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FOTO: CHRISTIAN FLEMMING Die Lindenscha­nze und die Sternschan­ze haben sich zu beliebten Treffpunkt­en für Jugendlich­e entwickelt. Die Anzahl der Feiernden sei trotz hoher Polizeiprä­senz massiv.
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FOTO: STADT Benjamin Taylor und Theresa Berschl von der Offenen Jugendarbe­it.

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