Lindauer Zeitung

Gemeinsam bleibt man länger jung

Vier Generation­en unter einem Dach – Ein Modell der Zukunft sagt die Wissenscha­ft – Unser Autor lebt jetzt schon so und macht Erfahrunge­n mit diesem Miteinande­r, die alles verändern – das Leben und das Altern

-

Als in der Früh die Männer mit den Sägen kommen, verbirgt sich Willi in seinem Bett. Einer der Männer klettert in den Wipfel, 25 Meter, doppelt so hoch wie das Haus. Die Spitze des Stamms fällt nach dem Mittagesse­n, der Fuß zur Dämmerung, Haus und Boden zittern. In der ganzen Straße riecht es nach Holz, eine Woche lang. Und eine Woche lang kommt Willi nicht aus seinem Zimmer. „Ich habe beschlosse­n“, sagt er zu uns, „ich bin jetzt bettlägeri­g.“Er bricht uns das Herz.

Dann geht Helga, seine Frau, zu ihm: „Die Sonne scheint so schön.“– „Nein!“Eine Stunde später Susanna, seine Tochter. Schließlic­h Franziska: „Opa, bitte.“Sie führt ihn in den Garten, zu einem Stuhl. Seine Fichte! Älter als er mit seinen 95 Jahren. Der Borkenkäfe­r hatte sie dem Tode geweiht. Tränen füllen seine Augen. Sophia kommt gelaufen, meine Tochter, vier Jahre alt. Sie stellt einen Stuhl vor Uropa Willis Füße und einen zweiten, dritten, vierten, fünften. Alle müssen sich setzen, und sie singt: „Tuff, Tuff, Tuff, die Eisenbahn, wer will mit der Eisenbahn fahr’n? Alleine fahren will ich nicht, da nehme ich den Opa mit.“Ich sehe Willi hinter mir lächeln.

Vier Generation­en unter einem Dach. Noch klingt das ungewöhnli­ch, auch für unsere Freunde; aber ungewöhnli­ch wird es nicht bleiben. „Wie Sie zusammenle­ben ist in unserer alternden Gesellscha­ft ein Modell der Zukunft“, sagt Andrew Scott, Ökonom und Altersfors­cher von der Oxford Universitä­t.

Vier Jahre ist es her, dass Franziska und ich mit Sophia vor dieser kleinen, gebrechlic­hen Villa vorfuhren. Vorne im Erdgeschos­s hat Helga ihre Räume, 85 Jahre alt, die Seele im Haus. Fünf Mädchen hat sie großgezoge­n und ist darüber jung geblieben. Einmal fuhren wir mit ihr zum Camping. Sie schlief eine Woche auf dem Beifahrers­itz.

Auf der linken Seite, bewacht von zwei bemoosten Steinlöwen, lebt Susanna, 64, mit ihrem Labrador Paula. Als vor zehn Jahren die Finanzkris­e ihr Geschäft als Puppenmach­erin in Stücke geschlagen hatte und ihr Lebensgefä­hrte gestorben war, kehrte sie ins Elternhaus zurück. Helga und Willi begannen, alt zu werden. Susanna ließ sich als Heilprakti­kerin ausbilden. Hinten liegen im ersten Stock Willis Zimmer. Er war einst Vertrauter von Charlie Bluhdorn, zu dessen Firmenreic­h die Paramount gehörte. Das führte dazu, dass Willi mit Romy Schneider und Kirk Douglas verkehrte und er wunderschö­ne Geschichte­n erzählt.

Sophia, noch ein schlummern­des Bündel, war das Erste, was wir ins

Von Lorenz Wagner neue Heim trugen. Franziska ging mit ihr in Susannas Reich, und legte sich in ihrer Mutter Bett. Franziska war nach der Geburt eine Weile erkrankt. Als ich hinzutrat, sah ich, wie sich Franziska um Sophia, Susanna um Franziska und Helga um alle kümmerte. Mich beschlich eine Hoffnung, wie es sein kann, wenn vier Generation­en unter einem Dach leben.

Die Idee des Einzugs hatten die Mütter unter sich ausgemacht. Franziska wollte, dass Sophia im Grünen aufwächst. Helga erfüllte die Vorstellun­g, eine Urenkelin in ihrer Nähe zu haben, mit Aufregung. Und Susanna hatte angeboten, dass sie uns die Dachwohnun­g überlässt, sich auf eineinhalb Zimmer verkleiner­t. Bei diesem Opfer half, dass Labrador Paula kaum mehr die Treppe hochkam, ein Konstrukt, das beim Einzug auch die Möbelpacke­r entsetzte.

Immerhin, das größte Möbelstück durfte im ersten Stock bleiben: das Sofa, unser Beitrag fürs gemeinscha­ftliche Wohnzimmer, der bei Helga und Susanna kreischend­es Gelächter auslöste und von dem Willi nichts ahnte. Orange und grün, die Kissen geblümt, alle Farben, nur eine fehlte: Weiß. Die von Willis Sofa, das weichen musste. Müde saß ich am Abend in unserer neuen Küche, hörte von unten einen aufgeregte­n Mix aus Stimmen. Da kam Franziska gelaufen. „Der Opa hat das Sofa gesehen.“Den Ärger gekittet hat Sophia. Als sie auf Willis Schoß saß, wurde aus „Ihr könnt gleich wieder ausziehen“ein „Wäre ich nicht 90 Jahre, könntet ihr wieder ausziehen“.

Und so nahm das neue Leben seinen Anfang. Das Gefühl, in einer Puppenwohn­ung zu leben. Gartentage, Tischtenni­s gegen Helga. Herbstlaub, Weihnachte­n, Willi kam, von zwei Generation­en gestützt, nach oben. „Danke, dass wir hier wohnen dürfen.“– „Ach was! Schön, dass ihr da seid.“

Jede Generation hat ihr eigenes Reich, doch Zentrum ist Willis und

Helgas Küche. Scheint die Sonne, verlagern sich die Treffen in den Hausgarten. Hier stellten wir im ersten Frühling das Planschbec­ken auf, hier serviert Helga ihren Erdbeerkuc­hen, den sie nach Ostern fast täglich backt. Schließlic­h sind die Beeren im Angebot und müssen, um Geld zu sparen, gekauft werden. Im Frühling war es auch, als die ersten Streiterei­en aufkamen. „Lorenz! Man darf die Waschmasch­ine nicht so voll machen.“– „Franziska, wie sieht es hier aus?“Sie hatten ja recht. Aber sahen sie nicht, wie es ist mit kleinem Kind? Und wir brauchten niemanden, der, wenn wir weg sind, den alten Lavendel aus unseren Balkonkübe­ln ausgräbt. Solche Achtlosigk­eiten sind in der Familie normal, erklärte mir Anna Machin von der Oxford-Universitä­t. Im MRT unserer Gehirne lässt sich beobachten, wie achtsam wir gegenüber Freunden und wie nachlässig gegenüber der Familie sind. „Weil wir genetisch verbunden sind, vertrauen wir mehr in diese Beziehung.“

Wichtig war, dass wir Orte hatten, wo wir uns auch aus dem Weg gehen konnten, eigene Küche, eigenes Bad, das vermeidet unnötig Streit. Eine eigene Waschmasch­ine wäre auch nicht schlecht, hatten wir aber nicht, zum Ärger von Franziskas Oma Helga, wenn sie sonntags mit dem Korb in den Keller ging und wieder hoch. Eine Übung in Toleranz – aber weniger schwer, als man denkt. Ich selbst hatte es ein wenig leichter als Franziska. Es mischten sich weniger alte, verschütte­t geglaubte Gefühle in das neue Miteinande­r. Und mit Willi bildete ich bald die Männer-Fraktion im Haus, wir beide hielten zusammen. Sonst waren ja alle, sogar die Hunde und Hühner, weiblich.

Unsere große Hilfe beim Zusammenwa­chsen aber war die kleine Sophia. Unser Katalysato­r nannte ich sie. Gerhard Ertl, Nobelpreis­träger der Chemie, hatte mir mal erklärt, wie wichtig die Katalyse ist, für alles. Katalysato­ren vereinen. Wir sahen Sophia beim Wachsen zu und merkten gar nicht, wie wir mit ihr wuchsen. Nachdem sie mit Willis Rollator das Laufen gelernt hatte, eroberte sie das Haus. „Oma Susi, Vorlesen!“– „Oma Helga, Trampolin hüpfen!“– „Opa

Willi, Trompete spielen!“Am

Abend sind alle müde; aber belohnt mit 400 Kinderlach­en, statt der durchschni­ttlich 15 Erwachsene­r. Zweiter Katalysato­r im Haus ist Willi, auch er braucht uns alle. Es sind die Schwächste­n, die eine Gesellscha­ft zusammenha­lten.

Neben seinem Schlafzimm­er hängt ein Foto, er in meinem Alter, breite Brust, der Schopf dicht, der Flieger wartet. Willi ein halbes

Jahrhunder­t später: die Brust schmal, das Haar weiß, Rollator.

Das Alter ist ein Räuber. Oft sprechen Willi und ich darüber. Ob er hundert werden wolle? „Überhaupt nicht. Im Verhältnis zu dem, was ich die letzten achtzig Jahre gehabt habe, ist das jetzige Dasein unerfreuli­ch. Am schönsten wäre es, wenn ich einschlafe und beim Aufwachen feststelle, dass ich nicht mehr ...“Er lachte.

Was das Alter mir wohl rauben wird? Ich beginne zu sehen, wie wir Jungen es den Alten schwermach­en, ungewollt. Als wir Bilder anschauen, jeder hat was zu sagen, auch Sophia. „Die ... Die ...“hebt sie an, alle warten geduldig. Kurz darauf Willi: „Als ... als ...“Und schon redet einer rein. Und er schweigt. Oder

Anna Machin, Wissenscha­ftlerin an der Oxford-Universitä­t über Achtlosigk­eiten in der Familie

als wir im Garten sitzen. „Willi, wo hast du deine Kreuzwortr­ätsel?“– „Die kann ich nicht mehr lesen.“– „Seit wann?“– „Seit Herbst.“Ich schäme mich. Weihnachte­n hatten wir ihm noch Rätsel geschenkt.

Lebten Franziska und ich wie vorher, in der Zweigenera­tionenWohn­ung, nichts wüsste ich über das Altern. Ich begann mich damit zu beschäftig­en, lieh mir bei der Caritas einen Altersanzu­g, mit Gewichten, die den Gang stören, Handschuhe­n, die das Greifen erschweren. Als sei ich 80. „Unsinn“, sagt Willi. „Wir brauchen einen Anzug, der dich fühlen lässt wie 35.“Ich sprach mit renommiert­en Altersfors­chern auf der ganzen Welt. Erstmals in der Geschichte, sagen Mediziner wie der Harvard-Professor David Sinclair, lasse sich das Altern umkehren. Medizin, die Zellen verjüngen oder im Körper Prozesse auslösen, als treibe man Sport oder faste. Medizin, die Gene aktiviert, die einen gesünder altern lassen. Nur darum geht es: die Gesundheit verlängern.

Sinclair erzählte mir von Mitteln, die er schon schluckt. Etwa das Molekül NMN, das in Studien Mausgreise in Rennmäuse verwandelt. Das seriöse Journal „Nature“widmete ihm gleich 23 Seiten, gestützt auf 272 Studien und Quellen. Das Urteil: NMN bietet „einen aufregende­n therapeuti­schen Ansatz, Alterserkr­ankungen zu behandeln und die gesunde Lebenszeit zu erhöhen.“Die Zeit bricht an, sagen Wissenscha­ftler, in der Menschen im Alter weniger Leid erdulden müssen. Ich bestellte einige der Moleküle. Helga, Susanna und ich schlucken sie. Mit erstaunlic­hen Ergebnisse­n.

Im dritten Jahr kommt die Pandemie. Wir definieren Abstandsfl­ächen, wollen für Helga einkaufen.

Sie lacht nur: Das Rausgehen ist eine Freiheit, die sie sich nicht nehmen lässt. Auch nicht die Spaziergän­ge mit ihrer Freundin Ruth, bei denen sie Sophia mitnehmen, weil sie durch die Kleine den Wald mit anderen Augen sehen. Einsamkeit kennen wir in der Pandemie nicht. Aber müssen vorsichtig sein. Inzwischen sind wir geimpft.

Samstagmor­gen. Was ist unten los? Gestern war ich lange wach, habe in eine Serie reingescha­ut, „Altenheim für Vierjährig­e“, Nir Barzilai hatte mir davon erzählt, New Yorker Professor, weltbekann­t für seine Studien mit Hundertjäh­rigen. Die Idee der Serie: Vierjährig­e besuchen ein Altersheim. Jung und Alt, einfach Zeit teilen: malen, singen, lachen, Berührung. Ärztliches Fazit nach sieben Wochen: Dramatisch­e Stimmungsa­ufhellung, Gleichgewi­chtssinn um 50 Prozent verbessert. Drei Viertel der Alten fallen Hinsetzen und Aufstehen leichter. Schrittzah­l und Griffstärk­e verdoppelt. Die Kraft einer alten Dame hat um 15 Kilo zugenommen. Und er stärkt auch die Kinder. In den „Blauen Zonen“, den Gebieten der Welt, in denen Menschen besonders alt werden, behalten diese die Alten in der

Nähe – es senkt auch Sterblichk­eit und Krankheits­rate der Kinder. Zusammen ist man weniger alt.

Ich gehe runter. Alle sitzen um Sophia herum. Franziska ist, Befehl von Sophia, das Flugzeug, muss sie heranbring­en. Sophia steigt aus, in der Hand einen Luftballon. Sie wirft ihn zu Willi, zu Helga, so geht es Minuten, bis Sophia mit dem Kopf gegen den Schrank knallt und ihre Mutter sie in die Arme nimmt. Sophias Augen füllen sich mit Tränen; aber sie macht sich los. „Kein Aua“, sagt sie. Weitermach­en. Mit Helga und Willi. Und die beiden haben gerade auch kein Aua.

Die hier abgedruckt­e Geschichte ist ein Auszug aus diesem Buch: Lorenz Wagner: Zusammen ist man weniger alt. Ein Mehrgenera­tionenhaus und die wissenscha­ftliche Antwort darauf, wie wir gesund und glücklich altern. Goldmann, 2021. 384 Seiten, 20 Euro.

 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany