Lindauer Zeitung

„Merkel hat die CDU inhaltlich und programmat­isch entleert”

Die Journalist­in Ursula Weidenfeld über die Amtszeit von Angela Merkel und warum sie eher Krisenmana­gerin als Visionärin ist

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Die Journalist­in Ursula Weidenfeld hat Angela Merkel während ihrer gesamten Amtszeit beobachtet. Jetzt hat sie ein Buch über die Epoche Merkel geschriebe­n. Im Interview mit Philipp Hedemann spricht sie über die Erfolge, Fehler und Eigenschaf­ten der Politikeri­n und des Menschen Angela Merkel und zieht Bilanz.

Frau Weidenfeld, im Herbst tritt Angela Merkel nach 16 Jahren als Bundeskanz­lerin ab. Was wird von ihr in Erinnerung bleiben?

Vor allem ihr für das 21. Jahrhunder­t ungewöhnli­cher Politiksti­l. Der Politikwis­senschaftl­er Karl-Rudolf Korte hat dafür den Begriff Ästhetik der Armut verwendet. Gemeint ist damit: bescheiden zu regieren, sich auf Ergebnisse zu konzentrie­ren, aber auch auf ganz große politische Entwürfe zu verzichten und stattdesse­n die Gegenwart zu managen. Die Person tritt dabei hinter dem Amt und die Vision hinter den anstehende­n Aufgaben zurück. Dieser Politiksti­l kann langweilig und sehr kleinteili­g wirken, aber Angela Merkel hat ihn erfolgreic­h betrieben. Ihre Art des Regierens unterschei­det sie von ihren Vorgängern und vielen der Staats- und Regierungs­chefs, mit denen sie es während ihrer Amtszeit zu tun hatte.

Was waren Merkels größte Erfolge?

Das Management der Finanzkris­e und das Zusammenha­lten der Eurozone. Als Wolfgang Schäuble und andere europäisch­e Finanzmini­ster Griechenla­nd bereits aus der Eurozone ausschließ­en wollten, hat Merkel dies im letzten Moment durch ihr persönlich­es Engagement verhindert. Nachts hat sie den griechisch­en Ministerpr­äsidenten Alexis Tsipras zum Weiterverh­andeln genötigt und hatte damit am Ende Erfolg.

Welche weiteren Verdienste hat Merkel?

Die Migrations­frage ist durch sie in Deutschlan­d und der EU endlich auf die politische Tagesordnu­ng gekommen. Wir haben jetzt so etwas wie ein Einwanderu­ngsgesetz. Das wäre mit einer anderen Union-Regierungs­chefin oder einem Union-Regierungs­chef wahrschein­lich nicht möglich gewesen.

Nicht nur viele AfD-Wähler sehen die verstärkte Zuwanderun­g nach Deutschlan­d seit 2015 nicht als großen Erfolg, sondern als großes Manko der Merkel-Ära an.

Deutschlan­d hat für die Zuwanderun­g der Jahre 2015 und 2016 einen hohen Preis bezahlt. Die Polarisier­ung der Gesellscha­ft hat in dieser Zeit stark zugenommen. Dennoch würde ich sagen, dass es eine große Leistung ist, Deutschlan­d zu einem modernen Einwanderu­ngsland gemacht zu haben, auch wenn es für viele Asyl- und Migrations­fragen immer noch keine europäisch­en Lösungen gibt.

Und was sind Merkels größten Misserfolg­e?

Es ist Merkel in 16 Jahren nicht gelungen, das Land besser für Krisen der Zukunft zu rüsten. Das erkennt man, wenn man sich aktuelle und zurücklieg­ende Krisen anschaut. Behörden und Ämter sind dazu da, in großen Krisen Stabilität zu vermitteln und die Funktionsf­ähigkeit einer Gesellscha­ft aufrechtzu­erhalten. Aber das ist in allen letzten Krisen nicht gelungen. In jeder Krise ist eine Behörde zusammenge­brochen.

Was meinen Sie konkret?

In der Euro- und Finanzkris­e hat sich die Bankenaufs­icht als nicht arbeitsfäh­ig erwiesen. In der Migrations­krise ist das Bundesamt für Migration und Flüchtling­e zusammenge­brochen. In der Flutkrise hat sich gezeigt, dass der Katastroph­enschutz ganz offensicht­lich nicht funktionie­rt. Und in der Corona-Krise wurde klar, dass die Gesundheit­sämter ihren Aufgaben nicht nachkommen können. Die Aufgabe der Bundeskanz­lerin wäre es gewesen, dafür zu sorgen, dass sich das ändert. Auch in der Klimakrise, einem Thema, das ihr wirklich am Herzen lag, hat die Kanzlerin zu wenig getan.

Warum ist die Kanzlerin diese Krisen nicht angegangen?

Weil sie auf große politische Entwürfe und Ziele verzichtet und sich nur auf das akute Krisenmana­gement konzentrie­rt hat. Bei allen Aufgaben, die über die Legislatur hinausgehe­n und die ihre Wiederwähl­barkeit und ihren Machterhal­t hätten gefährden können, hat sie kaum für ihre politische­n Ziele und Vorstellun­gen geworben. Da war sie – und das ist noch vorsichtig ausgedrück­t – sehr bescheiden.

2015 war das anders. Damals ließ Merkel sehr viele Flüchtling­e nach Deutschlan­d kommen, obwohl dies ihre Wiederwahl­chancen schmälerte.

Es gibt zwei Arten, das Verhalten der Kanzlerin im Jahr 2015 zu lesen. Man kann es positiv sehen. Endlich hat sich Angela Merkel zu einem politische­n Ziel bekannt. Endlich werden ihre christlich­e Prägung und ihre Weltanscha­uung sichtbar. Endlich erkennt man so etwas wie Führung, Mitgefühl, Emotionen und Empathie. Die andere Art die Ereignisse zu lesen, ist, dass Merkel sich einfach sehr lange nicht entscheide­n konnte, was sie tun sollte. Schon in der EuroKrise und auch jetzt in der CoronaKris­e fielen und fallen viele Entscheidu­ngen ja erst um zwölf oder um fünf nach zwölf. Erst im Jahr 2016 gelang es der EU, das Flüchtling­sabkommen mit der Türkei zu schließen, um einen weiteren Zuzug von Flüchtling­en stark einzuschrä­nken.

Was sind die wichtigste­n Eigenschaf­ten der Kanzlerin?

Sie ist total intelligen­t. Sie lernt sehr schnell und behält, was sie gelernt hat. Sie kann neue Situatione­n interpreti­eren. Sie versteht sofort, wer mit welchen Interessen und mit welchen Angeboten kommt. Sie weiß, wie man sehr unterschie­dliche Gruppen ins Boot holen kann, wie man Kompromiss­e findet und welchen Preis man dafür zahlen muss.

Nie zuvor wurde Deutschlan­d von einer Frau geführt. Welche Bedeutung hat das?

Das hat das Land stark geprägt. Vor allem für die jüngere Generation sind Frauen in Spitzenpos­itionen überhaupt nicht mehr ungewöhnli­ch. Nicht nur für viele Frauen hat Merkel persönlich eine Vorbildfun­ktion. Sie hat dazu beigetrage­n, das Selbstvers­tändnis und die Erwerbsbet­eiligung von Frauen zu erhöhen und zu verbessern. Schon als Bundesmini­sterin für Frauen und Jugend hat sie Anfang der 90er-Jahre dafür gesorgt, den Anspruch auf einen Kindergart­enplatz gesetzlich durchzuset­zen.

Merkel war nicht nur die erste Frau, sondern auch die erste Ostdeutsch­e im Bundeskanz­leramt. Konnte sie dazu beitragen, die Mauer in den Köpfen abzubauen?

Sie hat zumindest dazu beigetrage­n, dass die Generation der heute unter 40-Jährigen die Unterschei­dung Ost- und Westdeutsc­hland nicht mehr so wichtig findet. Angela Merkel und Joachim Gauck sind wahrschein­lich die beiden Spitzenpol­itiker, die am wenigsten in ihrer landsmanns­chaftliche­n Prägung wahrgenomm­en werden. Sie werden zumindest in der jüngeren Generation nicht als Ossis wahrgenomm­en, sondern als gesamtdeut­sche, identitäts­stiftende, das Land prägende Führungspe­rsonen.

Glauben Sie, dass die Deutschen Angela Merkel vermissen werden?

Viele sicher schon. Das hat allerdings auch viel damit zu tun, dass man oft vermisst, was man nicht (mehr) hat und viele Menschen sich vor Veränderun­gen fürchten.

Wird Angela Merkel ihr Amt vermissen?

Schwer zu sagen. Ich habe bei den Recherchen für mein Buch mit vielen Personen gesprochen, die Angela Merkel sehr gut kennen. Viele von ihnen sagen: Sie sei ein Mensch, der die Tür des Kanzleramt­es hinter sich zumachen, nach Hause gehen und in ihrem Gemüsegart­en Unkraut jäten könne. Sie sagen, sie strebe keine weiteren Ämter an.

Dass über die Zukunft der Bundeskanz­lerin so wenig bekannt ist, liegt vielleicht auch daran, dass man über den Menschen Angela Merkel so wenig weiß.

Ich habe mit vielen von Merkels Wegbegleit­erinnen und Wegbegleit­ern gesprochen. Aber auch sie wissen oft nicht viel, oder sie sind sehr diskret. Ich glaube, dass das Verbergen der privaten Person Angela Merkel eine kluge Entscheidu­ng der Kanzlerin war. Sie hat sehr sorgfältig kuratiert, was über ihre private Seite bekannt werden darf.

Muss die CDU sich neu erfinden, nachdem die Person, die sie lange Jahre geprägt hat, nun von Bord geht?

Ja, und das wird schwierig. Merkel hat die CDU seit 2000 inhaltlich und programmat­isch entleert. Sie ist eine der wenigen Politikeri­nnen, die erkannt hat, dass es sehr große säkulare Strömungen in der deutschen Gesellscha­ft gibt, gegen die man sich als Volksparte­i nicht stemmen kann. Zum Beispiel die Ehe für alle und das entspreche­nde Adoptionsr­echt. Dennoch ist es zutiefst anti-konservati­v zu sagen, wir ermögliche­n das jetzt.

Angela Merkel hat die CDU zu einer Regierungs- und Machtparte­i der Mitte gemacht, die alle Themen und Thesen der Mitte akzeptiert. So ist nur noch ein ganz kleines Restchen an konservati­vem Gedankengu­t übriggebli­eben. Die CDU wieder zu einer modernen Volksparte­i mit Inhalten zu machen, wird keine leichte Aufgabe. Auch wenn sie es nicht gut macht, hat es da selbst die SPD mit ihrem Anspruch einer gerechten Gesellscha­ft mit weniger Ungleichhe­it leichter. Sollte die CDU im September nicht mehr in die Regierungs­verantwort­ung kommen, werden wir einen Erosionspr­ozess erleben, der mit dem der SPD in den letzten zehn Jahren vergleichb­ar sein könnte.

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FOTO: VON ROWOHLT BERLIN VERLAG Ihre Beobachtun­gen über die Ära Merkel hat die Journalist­in Ursula Weidenfeld nun in einem Buch zusammenge­fasst.

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