So ging es für die Lindauer Juden weiter
1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland – Teil 2 der Serie
- Beim Übergang vom Hoch- zum Spätmittelalter veränderte sich das Leben der jüdischen Menschen in Lindau erneut. Da der Fernund Großhandel sowie das Geld als allgemeines Tausch- und Finanzierungsmittel im Übergang vom Hochzum Spätmittelalter stetig bedeutender wurden, kam dies auch den in diese Wirtschaftsbereiche abgedrängten jüdischen Kaufleuten zugute.
Ein Erwerbszweig, in welchen Juden damals massiv hineingedrängt worden waren, war das gewerbliche Verleihen von Geld gegen die Bezahlung von Schuldzinsen. Das Konzil von Vienne von 1311 bekräftigte nochmals das Verbot für Christen, Geld gegen Zinsnahme zu verleihen. Andererseits ist einem jüdischen Gläubigen gemäß dem 5. Buch Mose im Alten Testament, beziehungsweise der jüdischen Tora, das Zinsnehmen nur zwischen Juden verboten, nicht gegenüber Christen.
Der sich ausweitende Fernhandel europäischer Christen erforderte andererseits immer stärker ein funktionierendes Kreditwesen. Geld war auf dem Markt chronisch zu wenig vorhanden. Die einzigen Christen, welche sich dem kirchlichen Zinsverbot nicht beugten, waren in jenen Jahrhunderten die Kawertschen, beziehungsweise die Lombarden aus den norditalienischen Städten Asti und Chieri. Der erste namentlich bekannte Lindauer Kawertsche war Jacobus von Lindau, welcher 1294 an Graf Hugo von Montfort-Bregenz Geld gegen Zins verlieh.
Der erste namentlich bekannte männliche jüdische Lindauer Geldverleiher war 1287 Bertoldus Judeus de Lindaugia, welcher dem Grafen Ludwig von Montfort 19 Mark Silber verlieh. Bereits ein Jahr zuvor aber, 1286, hatte die jüdische Lindauerin Miriam Judea de Lindaugia an den Abt des Klosters St. Gallen Wilhelm I. von Montfort-Feldkirch sowie an den Grafen Ludwig von Montfort 30 Mark Silber verliehen.
Der Jahreszins wurde auf rund 60
Prozent vereinbart. Neben besagter Miriam trat 1314 in Lindau eine Bruna als jüdische Geldverleiherin auf, was zeigt, dass jüdische Frauen in diesem Wirtschaftszweig damaligen christlichen Frauen als Unternehmerinnen tendenziell überlegen waren.
1344 nahm der Rat der Stadt Lindau ausdrücklich einen jüdischen Geldverleiher von auswärts auf, um der maßlosen Zinshöhe einheimischer christlicher Wucherer ein Ende zu setzen. Johann von Winterthur,
Franziskanerbruder im Lindauer Barfüßerkloster, hielt den Vorgang in seiner Chronik fest.
Arno Borst fasste diesen Bericht unter anderem wie folgt zusammen: „Dass Leute mit Geld Geschäfte machten und von der Not der Mitbürger reich wurden, verstand sich für Lindauer Bürger von selbst, doch hier packte den Franziskaner vollends die Wut. In Lindau traten 1344 einige Männer und Frauen auf, die nach Johanns Worten schlimmer als die Juden waren. Sie verliehen Geld zu einem wöchentlichen Zinssatz von vier, also einem jährlichen von zweihundert Prozent. Das hieß nach Johann, den Menschen die Substanz aufzehren. Weibliche Wucherer behaupteten, um das Maß voll zu machen, sie hätten bei Franziskanern gebeichtet, und die hätten ihnen gesagt, das sei eine lässliche Sünde, denn sie trösteten mit ihrem Geld verzweifelte Menschen. In Wahrheit, so beteuerte Johann, gehörten die Wucherer nicht zu den Beichtkindern der Barfüßer. Die Aufregung war allgemein; die Wucherer suchten vor dem Volkszorn Schutz bei den Bettelmönchen, die Wucherfrage traf den empfindlichsten Nerv der Franziskaner. Sie verwarfen ja nicht die Geldwirtschaft an sich, von der sie leben mussten, sondern das Bestreben anderer, vom Geld zu leben ohne zu arbeiten oder zu betteln.“
Am 24. Juni 1344 kam ein jüdischer Geldverleiher, der über die Situation informiert worden war und bot an, falls man ihn als Bürger der Stadt aufnehme und den christlichen Kawertschen das Geldverleihen verbot, solange er in Lindau wohne und auf Seiten der Bürger Interesse daran bestehe, Geld zum üblichen Zinssatz von 43 und einem Drittel Prozent zu verleihen. Fünf Tage später ging der Rat der Stadt mit einem ausdrücklichen Beschluss auf dieses Angebot ein. Franz Joetze kommentierte dies 1909 wie folgt: „Es hat den Anschein, als ob der Zuzug von Juden den Geldverkehr in gesündere Bahnen gelenkt habe.“
Über Byzanz (heute Istanbul) und Venedig schleppten christliche und muslimische Fernhändler 1347 die Beulen- und Lungenpest aus Innerasien nach Mitteleuropa ein. Unwissenheit, Fanatismus, Gerüchtemacherinnen und Leichtgläubige fanden in dieser Seuchenzeit reichlich Anhänger. Christliche Geißeler zogen umher, und alte Vorurteile gegen die jüdische Minderheit wurden von fanatisierten Predigern erneut propagiert.
Eine der Behauptungen war, Juden hätten durch die Vergiftung der öffentlichen Brunnen die Krankheit des „Schwarzen Todes“, also der Pest, ausgelöst. Menschen jüdischen Glaubens waren damals weniger Opfer der Seuche, da ihre religiös bedingte größere Reinlichkeit in den Häusern einen gewissen Schutz dagegen bot.
Am 6. Dezember 1348 begann ausgerechnet das christliche Stadtregiment Lindaus eine bodenseeweite antijüdische Chronologie des Grauens. Hofkaplan Theodor Martin fasste dies 1878 mit den Worten zusammen: „Die Juden in Lindau waren in unserer Gegend die Ersten, die als Urteil das Wort ‚Feuertod’ über sich sprechen hörten. 1348 loderten dort, 1349 in Ravensburg, die Flammen zum Judentode.“
Dies stimmte für die Pogrome der Jahre 1348/49. Allerdings verbrannten Überlinger Christen bereits 1332 zwischen 300 und 400 jüdische Menschen in deren eigener Synagoge. Dort bildete die unbewiesene Behauptung eines „Ritualmordes“an einem christlichen Jungen den Vorwand. Im Jahre 1349 folgte das Massenmorden rund um den Bodensee, unter anderem in Radolfzell, Überlingen, Konstanz, Ravensburg, St. Gallen und Feldkirch. Überall machte man – nach dem bereits zuvor in der Schweiz gehandhabten Vorbild – eine angebliche Vergiftung der Brunnen durch Juden verantwortlich für die verheerende Pestepidemie, der man hilflos gegenüberstand.
Für die jeweiligen Untersuchungsbehörden war der Nachweis der Brunnenvergiftung kein Problem, da bei christlichen sowie jüdischen Ärzten leicht irgendein Gift als Medizin zu finden war. Die entsprechenden „Geständnisse“wurden dann durch die Folter erzwungen. Als nach der Vernichtung der Juden die Pest trotzdem anhielt, kam ein Konstanzer Chronist zu der Einsicht, „dass den Juden Unrecht geschah“.
1349 tauchten in Lindau wieder christliche Lombarden als Geldverleiher auf. Erst für 1358 sind wieder erste mutige jüdische Menschen in Lindau nachweisbar.