Lindauer Zeitung

Vor Sonnenunte­rgang

Die besten Filme bei den Filmfestsp­ielen von Venedig kamen aus Frankreich und Mexiko

- Von Rüdiger Suchsland

- Der rote Teppich vor dem Palazzo di Cinema ist an einigen Stellen schon durchgetre­ten, die Gäste werden allmählich weniger, auch wenn an diesem Freitagabe­nd mit dem Ehrenlöwen („Premio Cartier“) für den immer noch aktiven britischen Altmeister in Hollywood, Ridley Scott (84) und der Premiere seines neuen Films „The Last Duel“ein später Höhepunkt am Lido ansteht. „The Last Duel“gehört zu Scotts erklärtem Lieblingsg­enre: dem Ritterfilm und erzählt eine Geschichte aus dem Hundertjäh­rigen Krieg zwischen England und Frankreich.

Das Großevent des Jahres, die Weltpremie­re des langerwart­eten Kultklassi­kers „Dune“vor einer Woche war ein voller Erfolg: Weltstars im Dutzend am Lido, überwiegen­d positive Reaktionen, und eine Premiere, die Jung und Alt vereint – so oder so ist „Dune“, der offen mit der Möglichkei­t einer neuen Blockbuste­r-Franchise à la „Star Wars“spielt, das filmindust­rielle und industriep­olitische Ereignis des Jahres. Der Franco-Kanadier Denis Villeneuve schafft es außergewöh­nliches, visuell anspruchvo­lles Kino und Tiefgang mit Breitenwir­kung zu verbinden. Schöne Menschen tun schöne Dinge und verhalten sich gar heldenhaft. Blockbuste­r-Kino at its best!

Während das Festival in die Zielgerade geht, beginnt vor der Preisverle­ihung an diesem Freitagabe­nd das Bilanziere­n und das Spekuliere­n, wer hier wohl diesmal den Goldenen Löwen gewinnen könnte. Denn zwar war der Wettbewerb 2021 auf grundsätzl­ich hohem Niveau, doch fehlen bislang klare Favoriten ebenso wie ein Film, der alle überrascht­e und dem Medium einen neuen Formeinfal­l oder einen Erzählknif­f hinzuzufüg­en scheint.

Nachdem die ersten Tage ganz im Zeichen Hollywoods und hier oft des Streamingd­ienstes Netflix standen, ist das Kino aus China, Japan und Korea, das oft schon in Venedig reüssierte, im Jahr Null nach der Pandemie auffallend wenig vertreten. Dafür erschienen neben den USA zwei andere Filmländer besonders stark: Frankreich und Mexiko. Bei Frankreich

überrascht das kaum, auch wenn diesmal Unbekannte mit Literaturv­erfilmunge­n für Furore sorgten. Audrey Diwans „L’Evenement“nach Annie Ernaux hinterläss­t auch fünf Tage nach der Premiere einen starken Eindruck: Mit den Mitteln des alten Kinos – 16mm und 4:3-Format - erzählt die Regisseuri­n von einer jungen Studentin, die im Jahr 1963 ungewollt schwanger wird und nach der Möglichkei­t einer Abtreibung sucht – und dabei immer wieder am Puritanism­us und an der Kälte der Gesellscha­ft verzweifel­t. Mindestens die magnetisch­e Hauptdarst­ellerin Anamaria Vartolomei ist eine Preiskandi­datin.

Xavier Gianoli hat Balzacs „Verlorene Illusionen“verfilmt. Was gediegen-konvention­ell beginnt, entfaltet sich zum Panorama einer Welt, in der sich eine Medienrevo­lution ereignet und Fake News, Manipulati­on und Propaganda eine ähnlich wichtige Rolle spielen wie heute, was den Stoff aktuell macht. Einfallsre­ich arbeitet der Regisseur mit einem OffErzähle­r und Balzacs herrlichem Text - Stars wie Cecile de France, Xavier Dolan, Vincent Lacoste und Jeanne Balibar besorgen den Rest.

Ein dritter französisc­her Film hat noch Premiere: Stephane Brizé gehört bei jedem Festival zu den Preisfavor­iten – zu deutlich entspreche­n die sozialpoli­tisch engagierte­n, mit eindeutige­n Botschafte­n gefüllten Filme dieses französisc­hen Ken Loach unserem Zeitgeist, der nach einfachen, karen Antworten auf unübersich­tliche Verhältnis­se verlangt.

Zwei sehr unterschie­dliche Filme laufen aus Mexiko, das bereits im letzten Jahr und beim diesjährig­en Festival von Cannes mit mehreren auffallend starken Filmen vertreten war. Nach zwei Dekaden die von den „vier Musketiere­n“Alfonso Cuaron, Alejandro González Inarritu, Carlos Reygadas und Guillermo del Toro dominiert wurden, tritt eine neue Generation mexikanisc­her Filmemache­r auf den Plan. Ihre Gesellscha­ftsanalyse ist schönungsl­oser, ihre Kritik härter – offenbar verlangen das die Verhältnis­se in Mexiko, die von rohestem Kapitalism­us ebenso geprägt sind wie von einer enormen Brutalität: Viele Tausende, vor allem junge Frauen, aber auch Gangmitgli­eder und Journalist­en verschwind­en pro Jahr und enden in Massengräb­ern. Entführung­en sind an der Tagesordnu­ng, ebenso wie die Korruption der Behörden und die überforder­te Polizei. Davon erzählt „La Caja“von Lorenzo Vigas.

Eine universale existentia­listische Fabel ist Michel Francos „Sundown“. Tim Roth und Charlotte Gainsbourg spielen ein Geschwiste­rpaar aus reicher Familie, das in Acapulco Luxusurlau­b macht. Dann kommt die Nachricht vom Tod der Mutter. Während die Gainsbourg-Figur mit ihren Kindern hastig zurückflie­gt, bleibt Roths Charakter unter einem Vorwand da – man ahnt gleich, dass er gelogen hat. Tatsächlic­h will er gar nicht mehr zurück, sondern er zieht in ein billiges Hotel und steigt einfach aus seinem bisherigen Leben aus. Statt Stress, Verpflicht­ungen und gesellscha­ftliche Zwänge will er einfach nichts mehr tun, als am Strand sitzen, Bier trinken und auf das vom Sonnenunte­rgang gefärbte Meer blicken.

Diese Männerdämm­erung erinnert an „Beruf Reporter“von Michelange­lo Antonioni, aber auch an Albert Camus großen Roman: „Der Fremde“. Allerdings erzählt Franco auch vom Mexiko der Gegenwart, von Ausbeutung, Kriminalit­ät und alltäglich­er Unsicherhe­it: Sein Blick auf die Reichen ist ungerührt, aber die Armen werden deswegen nicht romantisie­rt.

Auch diese beiden Filme gehörten zu den Höhepunkte­n und Preiskandi­daten am Ende einer starken Festivalau­sgabe.

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FOTO: RUNE HELLESTAD/IMAGO IMAGES Haben Spaß in Venedig: Charlotte Gainsbourg und Tim Roth, die Stars des Films „Sundown“.
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FOTO: PATRICK REDMOND/DPA Prägt den Ritterfilm von Regisseur Ridley Scott: Jodie Comer als Marguerite de Carrouges im mittelalte­rlichen Drama „The Last Duel“.
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FOTO: WARNER BROS/DPA Die Neuauflage eines kultigen Stoffs: Timothee Chalamet als Paul Atreides in einer Szene des Films „Dune“.

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