Die Freude über Silber braucht noch etwas Zeit
Tischtennisspieler Thomas Brüchle über den Nervenkrimi an der Platte von Tokio
- Normalerweise gelingt ihm der Wechsel zwischen den beiden Welten, in denen er seit mehr als zehn Jahren unterwegs ist, ganz gut. Von der Tischtennisplatte ans Lehrerpult, vom Wettkampf zur Korrektur von Schulaufgaben. Doch jetzt steckt Thomas Brüchle noch irgendwo dazwischen fest. Nachdem er am Sonntag mit einer Silbermedaille von den Paralympics zurückgekehrt ist, braucht er Zeit, um zu verstehen, was da passiert ist in Tokio. Und um sich über eine Silbermedaille zu freuen.
20 Tage war er in Japan. Seine dritten Paralympics sollten seine Spiele werden. Allein ums Dabeisein ging es dem Lindauer, der seit seiner Kindheit querschnittsgelähmt ist, noch nie. Das Tischtennis-Ass hat schon zwei olympische Medaillen – beide sind silbern. Jetzt sollte eine goldene dazukommen. Und er war verdammt nah dran. Aber geholt haben sie am Ende doch wieder die Chinesen.
„Ich bin nicht zufrieden“, sagt der 45-Jährige, „ich habe mir viel mehr vorgestellt“. Was er sich in seinen schlimmsten Albträumen nicht vorgestellt hatte, war, im Einzel im Achtelfinale auszuscheiden. „Ich habe mich gut gefühlt“, sagt Brüchle, was auch zwei deutliche Siege zum Auftakt bestätigen. Auch als er auf den US-Amerikaner Jenson van Emburgh trifft, hat er seine Chancen, verliert aber im Entscheidungssatz mit 2:3 – trotz zwischenzeitlicher Führung. „Ich zeigte nicht mein bestes Tischtennis, war eher in der passiven Rolle. Mein Gegner hat sich über die Jahre verbessert und keine Nerven gezeigt.“Auch wenn Thomas Brüchle inzwischen Worte für das Unerklärliche gefunden hat: Die Enttäuschung ist riesengroß für den 45-Jährigen. „Ich habe nicht damit gerechnet.“Fünf Jahre harte Arbeit, viele Entbehrungen scheinen umsonst.
Thomas Brüchle macht solche Niederlagen eigentlich erst mal gern mit sich selbst aus. Doch in Tokio hat er nicht viel Zeit, um sich zu verkriechen. Eineinhalb Stunden später braucht ihn sein Teamkamerad – zum Einspielen und zum Anfeuern. Die vielen Nachrichten, E-Mails und WhatsApp-Botschaften, die in der Zwischenzeit auf Brüchles Handy eingegangen sind, liest er erst vor dem Schlafengehen. Was Familie,
Sportkameraden, Kollegen, Schüler und Nachbarn geschrieben haben, hat „mich sehr gerührt“. Die „lieben Worte“hätten schon geholfen, sagt er und fügt dann an, „so gut das eben geht.“
Jetzt liegt der Fokus auf dem Teamwettbewerb: Im Finale warten wieder die Chinesen, gegen die Thomas Brüchle und Tom Schmidberger die letzten beiden Paralympics verloren, die sie aber bei der WM 2014 geschlagen hatten. „Wir wussten, wir sind auf Augenhöhe“, sagt Brüchle. Nach dem Sieg im Doppel steht es dann 1:1. Jetzt liegt es an Tom Schmidberger, der Xiang Zhai im Einzelwettbewerb schon besiegt hatte.
Den folgenden Tischtennis-Krimi hätte auch Hitchcock nicht besser inszenieren können. Als Schmidberger 2:0 nach Sätzen führt, ist Gold zum Greifen nah. Doch dann verliert der Deutsche den Faden, das Spiel kippt. Thomas Brüchle feuert ihn an, gibt ihm Tipps. Doch was er in dem Gesicht seines Freundes liest, macht ihm wenig Hoffnung. „Er hat alles probiert, irgendwann war er sehr ratlos – und wir auch“, sagt Brüchle, der in der Box leidet. „Zuzuschauen ist schlimmer als selber zu spielen, man ist so hilflos.“
Als Schmidberger den letzten Ball im Netz versenkt und damit die Goldmedaille verspielt, umarmt Brüchle seinen Freund. Viele Worte braucht es in diesem Moment nicht und schon gar keine Vorwürfe. „Ich kenne das Gefühl gut“, sagt Brüchle, der in Rio Bronze knapp verpasst hatte. „Das ist halt Sport.“Schade nur, dass die Siegerehrung so unmittelbar auf die Niederlage folgte. „Es war schwierig, ein fröhliches Gesicht zu machen.“Wer die Bilder gesehen hat, weiß: Es ist ihm nicht gelungen.
Inzwischen liegen rund 9500 Kilometer Entfernung und unzählige Glückwünsche zwischen ihm und den Paralympics. Zum Jubeln ist dem Lindauer immer noch nicht zumute. „Ich bin noch nicht soweit, mich über Silber zu freuen“, sagt er ehrlich. Das werde wohl noch etwas dauern. Schließlich sei er „an seinen Zielen vorbeigeschrammt“. Jetzt muss er erst mal ausschlafen, einen klaren Kopf bekommen. Auf die Frage nach dem Warum hat er noch keine Antwort. Nur soviel: Die Vorbereitung sei gut gelaufen, und die Konkurrenz habe in den eineinhalb Jahren Pause auch ihre Hausaufgaben gemacht. 80 Prozent der Rollstuhl-Tischtennisspieler seien inzwischen Profisportler. Thomas Brüchle spielt sich als Amateur auf Platz vier der Weltrangliste. „Am Schluss interessiert das aber nicht“, sagt er. Dann zählt nur das Ergebnis.
Diese Woche will der Lindauer keinen Schläger in die Hand nehmen. Lange wird die Abstinenz aber nicht halten, „ich denke, nächste Woche kitzelt es mich schon wieder in den Fingern“, sagt er lachend. Und am 18. September ist schon wieder das erste Punktspiel der Bundesliga, in der er für den TT Frickenhausen startet.
In London und Rio spielte er vor Tausenden von Zuschauern, traf sich mit anderen Sportlern, erlebte diese besondere paralympische Atmosphäre. Das ließ Corona in Tokio nicht zu. Für Brüchle war das nicht schlimm: „Wenn man fünf Jahre hart dafür gearbeitet hat, nimmt man das gern in Kauf.“Ob er in drei Jahren noch einmal bei den Paralympics dabei sein wird? „Das muss ich mir in Ruhe durch den Kopf gehen lassen, ob ich diesen Aufwand betreiben will.“
Sein Tag ist durchgetaktet. „Wenn bei anderen die Freizeit anfängt, fängt bei mir das Training an.“Neben der Technik braucht er eine gute Kondition und Fitness für die kurzen, schnellen Bewegungen an der Platte. Und er ernährt sich gesund, vor Tokio hat er eineinhalb Jahre keinen Alkohol getrunken. „Das sind die letzten zwei, drei Prozent.“Das Alter, er wäre dann 48, sei kein Problem. Es komme bei den Paralympics auch viel auf die Erfahrung an.
Diese Woche stehen die ersten Konferenzen an, am Montag beginnt die Schule. „Dann geht das andere Leben wieder vor“, sagt Thomas Brüchle, der eine zehnte Klasse an der Parkrealschule Kressbronn unterrichtet. Es wird nicht lange dauern, dann ist er dort wieder ganz angekommen. Und vielleicht kann er sich dann mit etwas Abstand auch über Silber freuen.
„Die lieben Worte haben schon geholfen, so gut das eben geht.“
Thomas Brüchle