Flicks turbulenter Start
Mit einem Schreck in der Luft endet der erste Länderspielserie des neuen Bundestrainers
- Nach 14 Stunden Reisestrapazen mit einer ungeplanten Zwischenlandung traten Bundestrainer Hansi Flick und seine übermüdeten Nationalspieler endlich aus dem Flieger ins Freie. Erschöpft, aber auch erleichtert. Die in Edinburgh gestartete Ersatzmaschine mit dem DFB-Team hatte um 15.30 Uhr sicher am Frankfurter Flughafen aufgesetzt. Der Trip kostete aber einige Nerven – er passte damit so gar nicht zu Flicks perfektem Neun-Punkte-Start.
Flug KLJ2703 musste auf der Heimreise aus Reykjavik nach dem 4:0 (2:0) gegen Island einen technischen Notruf absetzen, abrupt abdrehen und zum Sicherheitscheck in Schottland landen. Der Grund: ein womöglich defekter Notstromgenerator. Das teilte die litauische Charterfluggesellschaft KlasJet mit.
Panik kam im Flugzeug überhaupt keine auf – auch, weil die Durchsage des Piloten erst spät erfolgte. „Ich war nur überrascht, dass ich plötzlich die Häuser so scharf sehen konnte“, berichtete DFB-Interimspräsident Rainer Koch: „Das war weder spektakulär noch eine Notlandung.“
Kapitän Manuel Neuer, Serge Gnabry und Joshua Kimmich blieb die Tortur erspart: Sie flogen um 7.19 Uhr von Reykjavik ohne Probleme direkt nach München. Flick musste den Umweg nehmen, ansonsten lief für ihn alles nach Plan. Er sei sportlich „rundum zufrieden“, betonte der Bundestrainer: „Wir sind sehr, sehr happy mit der Entwicklung.“
Drei Spiele, drei Siege, 12:0 Tore – und, zumindest phasenweise, richtig guter, moderner Fußball: Dem neuen Chef ist es in kürzester Zeit gelungen, die Nationalmannschaft wieder in die Spur zu bringen. Nach dem überzeugenden Abschluss geriet Flick darüber so sehr ins Schwärmen, dass er sich irgendwann selbst unterbrach. „Ein bisschen zu lang“, sagte er und lachte, „ich weiß.“
Anschließend hatte Flick seine Spieler beim gemeinsamen Nachtmahl noch dankbar und mit guten Wünschen in den Club-Alltag verabschiedet. „Ihr könnt mit breiter Brust zu euren Vereinen gehen. Versucht dort, genauso die Leistung abzurufen“, so der 56-Jährige. Neben „Glück und Erfolg“in den nationalen Ligen oder der Champions League wünschte er allen, „gesund zu bleiben“.
Flicks gute Laune, ja seine ganze Art steckt an. Die Fans, die nach zwei bitteren Turnierenttäuschungen
Reykjavík, Edinburgh, Frankfurt, Paris. Die erzwungenermaßen umständliche und etwas nervige Flugroute dürfte Nationalspieler Thilo Kehrer nur kurzfristig die Laune verhagelt haben. Denn der 24-Jährige, seit 2018 in Diensten von Paris St. Germain, gilt als der Gewinner der ersten drei Länderspiele unter dem neuen Bundestrainer Hansi Flick. Denn Kehrer, erstmals seit einem Jahr wieder für die deutsche Nationalelf nominiert, überzeugte drei Mal: Beim 2:0 gegen Liechtenstein als Innenverteidiger und Vertreter des Abwehrchefs Antonio Rüdiger (FC Chelsea) sowie beim glanzvollen 6:0 gegen Armenien als Linksverteidiger anstelle des verletzten Robin Gosens. Beim 4:0 auf Island setzte Kehrer noch einen drauf: Erst sicherte er souverän die linke Abwehrseite ab obwohl dies nicht die Sahne-Seite des Rechtsfußes ist und Flick in David Raum (TSG Hoffenheim) einen Linksfuß und Spezialisten zur Verfügung gehabt hätte. Er wählte Kehrer – auch als Bayern-Profi Niklas Süle nach einer guten Stunde zur Schonung ausrechnet. gewechselt wurde, sprang der vielseitige Schwabe (geboren in der Universitätsstadt Tübingen) ein. Flexibilität, Variabilität – das schätzt Flick ganz besonders.
Was der 56-Jährige nicht gerne macht: ein Sonderlob verteilen. Am Nordatlantik machte er eine Ausnahme. „Ich kann auch mal einen herausheben“, sagte Flick im Keller unter der Haupttribüne des Nationalstadions Laugardalsvöllur, und sagte über den (Rück-)Kehrer: „Thilo ist flexibel einsetzbar, topfit, sehr selbstbewusst.“Vor der Nominierung informierte sich Flick telefonisch bei Kehrers Vereinstrainer Mauricio Pochettino, der ihm nur Gutes über den U21-Europameister von 2017 berichten konnte. „In den vergangenen Wochen machte er große Fortschritte in puncto Stellungsspiel und Durchsetzungsvermögen. Außerdem wirkt er befreiter und souveräner“, lobte PSG-Trainer Pochettino.
Nach einer enttäuschenden Saison in Paris mit wenigen Einsätzen und vielen Blessuren hatte er mit der Nicht-Nominierung für die EM geEin Rückschlag war es dennoch nach den neun Länderspielen unter Joachim Löw, der ihn beim Test gegen Peru (2:1) im September 2018 debütieren ließ. Gerüchte um einen Abgang aus Paris zurück in die Bundesliga zum FC Bayern oder Bayer Leverkusen erhärteten sich nicht. „Zu mir sind keine Angebote durchgedrungen“, sagte Kehrer, dessen Vertrag bis zum 30. Juni 2023 läuft. Im ungewollt langen Sommer-Urlaub arbeitete er an seinem Körper, um topfit in die neue Saison zu gehen. Was sich auszahlt. Im Starensemble von PSG wurde er diese Saison in jeder Partie von Beginn an eingesetzt, hat keine einzige PflichtspielMinute verpasst. PSG-Sportdirektor Leonardo ist happy, dass sich auch investiertes „Kleingeld“wie die 37 Millionen Euro Ablöse für den Innenverteidiger lohnen. Ab Freitag kann Kehrer auf dem PSG-Gelände wieder mit der Stürmer-Crème de la Crème trainieren, mit Neuzugang Lionel Messi oder dem nicht zu Real Madrid abgewanderten Kylian Mbappé. Das härtet ab – und macht stark. (ps) wieder an eine erfolgreiche Zukunft glauben. Und die Spieler, die sichtlich Spaß haben. „Er nimmt alle mit – alle Spieler, alle Verantwortlichen drumherum“, lobte Thilo Kehrer, den Flick vom Aussortierten zur neuen Stammkraft in der Abwehr machte (siehe Kasten; d. Red.).
Mit Kehrer spielte die DFB-Auswahl dreimal zu Null – eine längere Serie gab es zuletzt vor viereinhalb Jahren. Das neue Mittelfeld um die Münchner Joshua Kimmich und Leon Goretzka versprüht Esprit wie Kampfkraft. Und vorne geht wieder die Post ab.
Null Tore – so lautete die traurige EM-Bilanz von Serge Gnabry, Leroy Sane und Timo Werner. Unter Flick traf das Trio gleich acht Mal, in Island
„Er nimmt alle mit –
alle Spieler, alle Verantwortlichen
drumherum.“
Thilo Kehrer
je einmal (4., 56., 89.). „Mit dem neuen Wind und neuer Spiellaune fallen die Dinger relativ leicht“, sagte Gnabry achselzuckend.
Eine wichtige Rolle spielt der neue, mutigere Ansatz. Durch die frühen Ballgewinne sei der Weg zum Tor kürzer, dozierte Flick und lobte: „Die Mannschaft hat die Idee, wie wir spielen wollen, hervorragend interpretiert. Alle haben eine sehr gute Visitenkarte abgegeben – auch die, die nicht gespielt haben.“
Das galt für die jungen, frischen Gesichter wie Karim Adeyemi ebenso wie für Mads Buttgereit, den neuen Standardexperten. „Ich würde lügen, wenn ich sage, dass das nicht so gewollt war“, sagte Flick über den Kopfballtreffer von Antonio Rüdiger (24.) nach einem Kimmich-Freistoß.
Der Lohn dieser Veränderungen: Die souveräne Tabellenführung in Gruppe J. Ist das WM-Ticket damit schon vor den vier abschließenden Spielen im Oktober und November so gut wie sicher? „Bleiben wir jetzt schön ruhig, ja!“, mahnte Flick. Ihm fielen auch Mängel auf, „die Präzision beim letzten Pass, die Entschlossenheit vor dem Tor“. Neuer gab zu bedenken: „Es waren Mannschaften, die bei den Turnieren eher nicht in der K.o.-Runde zu sehen sind.“Oder, wie Rio-Weltmeister Lukas Podolski sagte: „Die Brötchen werden bei der Weltmeisterschaft gebacken.“