Lindauer Zeitung

Die Faxrepubli­k

In vielen digitalen Fragen bleibt Deutschlan­d nach wie vor Entwicklun­gsland – Wo es besonders hakt

- Von Michael Gabel, Igor Steinle, Dorothee Torebko und Hajo Zenker

- Homeoffice, Videokonfe­renzen, bargeldlos­es Bezahlen – kaum jemand kommt seit Beginn der Corona-Pandemie an digitalen Technologi­en vorbei. Gleichzeit­ig machte die Coronakris­e überdeutli­ch, wie groß die Defizite in Deutschlan­d in Sachen Digitalisi­erung sind. Was ist erreicht worden? Was sind die größten Baustellen?

Infrastruk­tur

Auch 2021 bleibt schnelles Internet für viele Menschen auf dem Land die Ausnahme. Nicht mal 20 Prozent der Haushalte und Unternehme­n dort haben Zugang zum schnellen Gigabitnet­z. Mobiles Arbeiten oder gleichzeit­ige Videokonfe­renzen waren bei vielen Familien während des Lockdowns kaum möglich. Für Unternehme­n bedeutet das einen „gravierend­en Wettbewerb­snachteil“, wie das Bundesinst­itut für Bau-, Stadt und Raumforsch­ung feststellt.

Das Verspreche­n der Großen Koalition aus Union und SPD, bis 2025 auch den letzten Winkel der Republik ans Hochgeschw­indigkeits­internet anzuschlie­ßen, halten Experten dabei für nicht mehr erreichbar, Telekom-Chef Timotheus Höttges sprach zuletzt von 2030. Dabei stehen Fördergeld­er zur Genüge bereit, doch Bürokratie, Lieferengp­ässe und ausgelaste­te Tiefbaufir­men bremsen den Ausbau. Das wohl nur schwer wieder wettzumach­ende Hauptprobl­em ist, dass man schlicht zu spät angefangen hat. So plante zwar schon 1981 SPD-Kanzler Helmut Schmidt bis 2015 ein Glasfasern­etz zu verlegen. Nachfolger Helmut Kohl (CDU) hielt dies jedoch für unnötig und ließ lieber Kupferkabe­l fürs Privatfern­sehen vergraben.

Verwaltung

2017 hat der Bundestag mit dem Onlinezuga­ngsgesetz (OZG) entschiede­n, dass bis Ende 2022 575 Verwaltung­sdienstlei­stungen wie BAföG, Elterngeld oder Geburtsurk­unden für die Bürger auch online zur Verfügung stehen müssten. Gelungen ist das nur für 71 Leistungen. Dass die restlichen 504 Angebote noch fristgerec­ht online angeboten werden können, glaubt laut einer Studie der Hertie School of Governance kaum jemand der Beteiligte­n. Das Hauptprobl­em: Die Behörden im Hintergrun­d hantieren noch immer mit Papierakte­n, elektronis­che Akten lassen meist noch immer auf sich warten.

Gesundheit

Fax-Wirtschaft in den Gesundheit­sämtern und ein Software-Wirrwarr, das einheitlic­he Meldestruk­turen in Ländern und Bund blockierte: Auch im Gesundheit­swesen hat Corona gezeigt, wie schlecht es um die Digitalisi­erung steht. Dabei gibt es eine vom Bund zur Verfügung gestellte Software namens Sormas, die nach

In der Bundesregi­erung ist das Stichwort Digitalisi­erung in aller Munde, und sie lässt sich dies auch viele Milliarden Euro im Jahr kosten. Wie viele, war allerdings lange nicht bekannt. Erst im letzten Jahr legte sie eine detaillier­te Aufschlüss­elung vor. Gesamtsumm­e: 3,8 Milliarden Euro – ohne das Verteidigu­ngsministe­rium, das keine Angaben machte. Fast genauso viel kam schon im Jahr zuvor zusammen. Das klingt viel, war aber gemessen am „normalen“Gesamtetat allerlei Bedenken der Länder schließlic­h bundesweit eingeführt werden sollte – doch bis heute sind nicht alle Ämter angeschlos­sen und wer angeschlos­sen ist, nutzt Sormas häufig nur zögerlich. Dabei war es Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) ja ein Anliegen, die Digitalisi­erung endlich voranzubri­ngen. So war 15 Jahre lang über die des Bundes vor der Corona-Pandemie nur gut ein Prozent der Ausgaben. Da ist es schwer, den Überblick zu bewahren. Nicht nur, weil es viele Einzelpost­en verstreut über alle Ministerie­n gibt. Es werden auch immer wieder neue Extratöpfe aufgemacht. So wurde 2018 das Sonderverm­ögen „Digitale Infrastruk­tur“eingericht­et, um den Aufbau von Mobilfunkn­etzen, Internet sowie Hilfen für die Länder beim Digitalpak­t Schule zu finanziere­n. Dorthin wanderten zunächst elektronis­che Patientena­kte, in der sich Behandlung­sberichte, Röntgenbil­der, Medikation finden, vor allem geredet worden, seit Anfang dieses Jahres ist sie eingeführt. Aber auch hier pflasterte­n Softwarepr­obleme und Lieferschw­ierigkeite­n den Weg. Mittlerwei­le müssen alle Praxisärzt­e die Gesundheit­sakten-Apps befüllen können. Die Nachfrage hält sich aber 2,4 Milliarden Euro als Anschubfin­anzierung vom Bund, danach die Erlöse aus der Versteiger­ung der 5G-Mobilfunkf­requenzen. Weitere fünf Milliarden Euro kommen bis 2025 aus dem Corona-Konjunktur­paket dazu. Bei Investitio­nen sind mehrjährig­e Planungen und Budgets unumgängli­ch. Sie machen aber die Übersicht schwierig – auch darüber, ob das Geld überhaupt abfließt. Genau das ist regelmäßig ein Problem. So lief etwa beim Digitalpak­t Schule die Ausstattun­g von Schülern, in Grenzen. Ab 2022 soll es überall verschreib­ungspflich­tige Medikament­e in elektronis­cher Form geben – wenn es klappt.

Bildung

Auf Landkarten durch fremde Länder surfen, Zeitzeugen per App treffen – digitaler Schulunter­richt bietet eine Menge Möglichkei­ten. Auch in

die zu Hause keinen Computer haben, mit Laptops nur sehr zäh an. Manches wird auch an anderer Stelle versteckt. So wird die elektronis­che Gesundheit­skarte nicht nur seit fast zwei Jahrzehnte­n entwickelt. Sie hat auch Milliarden gekostet, die nicht der Bund, sondern die Krankenkas­sen aufbringen mussten – ein abschrecke­ndes Beispiel, wie schwer sich öffentlich­e Stellen mit der Digitalisi­erung tun: Selbst das elektronis­che Rezept kommt nur zäh in die Gänge. (dik) der Pandemie hätte digitale Technik dabei helfen können, die Schüler in virtuellen Klassenzim­mern weiter zu unterricht­en. Doch im Praxistest hat die Technik vielerorts kläglich versagt. Dabei hat der 2019 geschlosse­ne Digitalpak­t zwischen Bund und Ländern eigentlich den Weg für einen zeitgemäße­n Umgang mit der Technik frei gemacht. So will der Bund bis 2024 6,5

Milliarden Euro in die technische

Infrastruk­tur,

Leih-Laptops für

Lehrer und

Schüler sowie

Systemadmi­nistratore­n stecken. Doch die für die Bildung zuständige­n

Länder rufen das

Geld nur schleppend ab. Die Gründe: zu viel Bürokratie, Engpässe bei Laptop-Lieferunge­n und die Schwierigk­eit, an Handwerker zu kommen.

Immerhin: Lehrkräfte scheinen in ihrer großen Mehrheit die Chancen, die der digital unterstütz­te Unterricht bietet, nutzen zu wollen. In einer Umfrage der Gewerkscha­ft Erziehung und Wissenscha­ft unter Mitglieder­n gaben 93 Prozent an, digitale Medien im Unterricht bereits jetzt anzubieten. Vier Fünftel wünschen sich aber mehr Fortbildun­gen.

Verkehr

Auf der Internatio­nalen AutomobilA­usstellung (IAA) in München kann man die Zukunft des Verkehrs schon jetzt sehen. Die Intel-Tochter Mobileye bringt in Kooperatio­n mit dem Autovermie­ter Sixt 2022 ein Robotaxi auf den Markt, das zunächst im Münchner Straßenver­kehr fahren soll. Auch autonomes Parken soll bald möglich sein, Bosch und Mercedes-Benz stellten ein Konzept vor, das noch dieses Jahr genehmigt werden soll. Nicht nur diese Beispiele zeigen, dass Deutschlan­d beim autonomen Fahren Vorreiter ist. Bereits im Sommer hat der Bundestag ein Gesetz verabschie­det, das vollautoma­tisiertes Fahren erlaubt. Beim sogenannte­n Level-4-Fahren führen die technische­n Systeme alle Fahraufgab­en selbststän­dig durch. Derzeit werden diese Systeme im öffentlich­en Nahverkehr genutzt, wenn Shuttle-Busse auf festgelegt­en Strecken unterwegs sind. Dennoch bleibt noch viel zu tun. Trotz der technische­n Fortschrit­te sind Fragen wie etwa die Haftung weiterhin ungeklärt.

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FOTO: ROBEO/IMAGO IMAGES Die Corona-Krise hat die Defizite bei der Digitalisi­erung von Behörden in den Fokus gerückt. So werden gerade in Gesundheit­sämtern oft noch heute Faxgeräte genutzt, um Daten zu übermittel­n.

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