Von der Hinterbank in die erste Reihe
Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken ist auch Spitzenkandidatin der Partei in Baden-Württemberg – Ein Porträt der 60-Jährigen
- Da steht sie nun. Endlich, möchte man sagen. Vorherige Anfragen bei der SPD-Parteizentrale, ob Saskia Esken im Wahlkampf zu beobachten sei, waren nicht von Erfolg gekrönt. Sei’s drum. Bis zur Bundestagswahl sind es ja noch ein paar Tage, und jetzt legt sich die SPD-Bundesvorsitzende mächtig für den Kanzlerkandidaten ihrer Partei, Olaf Scholz, ins Zeug. Die Kampagnen auf ihn seien „Ausweis einer Union in Panik, die inhaltlich entkernt ist, die keinen Plan und keinen Kompass hat, deswegen ist es Zeit, dass die in die Opposition gehen“, sagt sie nach Gremiensitzungen am Montag in Berlin.
Allein diese Aussage zeigt: Für den diplomatischen Dienst ist die 60-jährige Schwäbin nicht geboren. Sie spricht Klartext – mündlich oder schriftlich auf Twitter und in anderen sozialen Medien. Manche, auch in den Reihen der Sozialdemokraten, finden, oder besser gesagt, fanden ihre Aussagen nicht nur klar, sondern schlicht daneben – beispielsweise, als sie deutschen Polizisten „latenten Rassismus“vorwarf. Damit brachte sie auch den niedersächsischen SPDInnenminister Boris Pistorius und einige seiner Amtskollegen gegen sich auf. Auch ihre Kritik am früheren Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse wegen dessen Ansichten zur linken Identitätspolitik kam nicht überall gut an. Thierse, der sich von dem Vorwurf getroffen sah, ein „rückwärtsgewandtes Bild der SPD“zu verkörpern, bot seinen Parteiaustritt an, Esken suchte daraufhin den Dialog.
Die Liste der kritischen bis provozierenden Äußerungen der SPD-Vorsitzenden, die seit Dezember 2019 im Amt ist, ließe sich fortsetzen. Interessanter ist aber, dass es gerade der Frau, die kein Blatt vor den Mund nimmt, gelungen sein soll, Teil einer neuen, geschlossenen SPD zu sein. „Unter Saskia Eskens Vorsitz ist die SPD geheilt und geeint“, sagt die Abgeordnete für den Wahlkreis AalenHeidenheim, Leni Breymaier. Diese Einschätzung teilt auch der Biberacher SPD-Politiker Martin Gerster. „Wir haben innerhalb der SPD eine neue Geschlossenheit. Es gibt eine Riesenunterstützung für unseren Kanzlerkandidaten Olaf Scholz und ein neues Vertrauensverhältnis zwischen Parteispitze, Fraktionsspitze und Kanzlerkandidat“, sagt er. Die Außenwahrnehmung der SPD-Chefin und ihr Wirken in der Partei weichen offensichtlich voneinander ab.
Als sie vor 21 Monaten, im Team mit dem früheren nordrhein-westfälischen Finanzminister Norbert Walter-Borjans, die Führung der Sozialdemokraten übernahm, haben ihr nur wenige einen Erfolg zugetraut. Was hatte Esken auch vorzuweisen? Sechs Jahre als Abgeordnete im Bundestag, stellvertretende Sprecherin der Fraktionsarbeitsgruppe Digitale Agenda, auf Landesebene war sie in Baden-Württemberg mal drei Jahre lang Mitglied des Vorstands, ansonsten Vorsitzende des SPD-Ortsvereins Bad Liebenzell und Vorsitzende des Kreisverbands Calw. Im Vergleich zu ihrer Vorgängerin Andrea Nahles, die schon mit 25 Jahren JusoChefin war, bevor sie dann richtig
Parteikarriere machte und Ministerin wurde, war das natürlich nichts. Auch der Titel „stellvertretende Vorsitzende des Landeselternbeirats Baden-Württemberg“beflügelte eher die Spötter und Skeptiker, als sie verstummen zu lassen.
Dabei war die Art und
Weise, wie Saskia Esken zur SPD-Vorsitzenden wurde, bereits ein Signal, dass sie nicht gewillt ist, sich an Konventionen zu halten und sich klein zu machen. Die Idee, mit Walter-Borjans als Team in den Ring zu steigen, ging im August 2019 von ihr aus. Nach 23 Regionalkonferenzen lagen sie im ersten Wahlgang noch hinter dem favorisierten Team Klara Geywitz und Olaf Scholz, bei der Stichwahl hängte das Duo Esken/Walter-Borjans die Favoriten
jedoch ab. Die Überraschung war perfekt – und die Ausgangsbasis für den jetzigen SPD-Kanzlerkandidaten nicht unkompliziert. Aber anders, als von vielen prognostiziert, scheint die Verteilung der Zuständigkeiten bei den Sozialdemokraten zu funktionieren. „Nach dem Rückzug von Andrea Nahles haben einige erkannt, wie prekär die Situation der Partei ist. Es ist uns gelungen, uns auf das Motto ,Gemeinsam sind wir stark' einzuschweißen“, sagt der Bundestagsabgeordnete Gerster dazu. Scholz hat inzwischen sogar via „Spiegel“Interview kundgetan, dass er seine Parteivorsitzende „selbstverständlich“für ministrabel halte.
Der Wille zum Dialog, die Fähigkeit, Streitereien aus der Partei draußen zu halten: Beides würde man Esken tatsächlich nicht unbedingt zutrauen, wenn man ihr zuhört. Sie spricht so schnell, dass man es sofort bereut, keinen Stenografie-Kurs besucht zu haben. Sie fällt auch ihrem Co-Vorsitzenden Walter-Borjans ins Wort, wenn sie etwas loswerden will. Und sie blickt so streng in die Runde, scannt die Gesichter der Journalisten, als würde sie sich merken wollen, wer was über sie schreibt. Aber sie ist auch gut vorbereitet, hat Daten und Inhalte, nach denen sie gefragt wird, sofort parat. Und einmal lächelt sie auch, als ihr eine Journalistenfrage wohl gefällt. Doch ihre Sympathiewerte sind nicht die besten.
Für die politische Konkurrenz war es eine Steilvorlage, dass sie während des Wahlkampfs wochenlang nur wenige Auftritte machte. Esken werde versteckt, um den Erfolg von Scholz nicht zu gefährden, hieß es wieder und wieder – zuletzt am Sonntagabend von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) bei Anne Will. Offiziell wird diese Sichtweise von Sozialdemokraten natürlich dementiert, aber Eskens Imageprobleme sind durchaus ein Thema. Das, was sie im persönlichen Gespräch sympathisch mache, könne sie bei öffentlichen Auftritten nicht transportieren, heißt es. Leni Breymaier nennt noch einen weiteren Grund, warum sich so viele an der SPD-Chefin reiben. „Ihr fehlt das Gefall-Gen. Sie macht ihr Ding“, sagt sie. Dazu komme, dass Frauen allgemein Fehler weniger verziehen werden. „Und hörbare Schwäbinnen haben es, glaube ich, auch etwas schwerer“, so die Abgeordnete.
Dass sie nicht angetreten ist, um zu gefallen, würde Esken wohl genau so unterschreiben. In ihrem Lebenslauf deutet wenig darauf hin, dass sie Dinge gemacht hat, nur um andere zu beeindrucken. Ihr Studium, Germanistik und Politikwissenschaft, hat sie abgebrochen. Um Geld zu verdienen, arbeitete sie in Niedriglohnjobs unter anderem als Paketzustellerin und als Kellnerin. 1990, im selben Jahr, in dem sie in die SPD eintrat, begann sie eine Ausbildung zur staatlich geprüften Informatikerin. Diesen Beruf gab sie der Kinderbetreuung zuliebe wieder auf – sie hat mit ihrem Mann drei inzwischen erwachsene Kind. Im Bundestag konnte sie von ihrem Beruf profitieren, als Mitglied in den Ausschüssen für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung sowie Digitale Agenda. Martin Gerster findet es richtig gut, eine Parteivorsitzende zu haben, die nicht nur den Bundestag von innen kennt. „Frau Esken ist eine Parteivorsitzende mit einem sehr interessanten Lebenslauf. Das sind Erfahrungen, die nicht jeder mitbringt“, sagt er.
Dass Esken jetzt so vehement für einen höheren Mindestlohn von zwölf Euro eintritt, hat sicherlich mit ihren Erfahrungen im Niedriglohnsektor zu tun – auch dass sie als Parteilinke durchaus Schnittmengen in der Sozialpolitik mit den Linken sieht. Aber gefragt nach einer möglichen Koalition mit den Linken, verweist sie mit Vehemenz auf einen SPD-Beschluss. „Mit einem klaren Bekenntnis zur Nato und zu einer starken Europäischen Union“, sagt sie. Das seien doch klare Kriterien.