Lindauer Zeitung

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Erstmals dürfen voll betreute Menschen ihre Kreuzchen machen

- Von Thomas Tjiang

(epd) - Lange Zeit waren sie vom Wahlrecht auf Bundeseben­e ausgeschlo­ssen: Aber am 26. September dürfen in Deutschlan­d Menschen mit einer Betreuung in allen Belangen jetzt an der Bundestags­wahl mitwählen. Rund 85.000 Menschen könnten ihr Wahlrecht wahrnehmen.

„Ich freue mich, dass wir jetzt den Bundestag wählen dürfen.“Günter Usbeck gehört zu den vielen Erstwähler­n, die zum ersten Mal ihre Kreuzchen bei einer Bundestags­wahl machen dürfen. Der Mittelfran­ke aus Hilpoltste­in gehört aber nicht zu den neuen Volljährig­en, die nun frisch an die Urne dürfen. Usbeck ist mit seinem 73 Jahren schon lange Rentner, darf aber erst jetzt als Mensch mit Behinderun­g in sogenannte­r rechtliche­r Vollbetreu­ung die erste Bundesregi­erung mitbestimm­en.

Bis 2019 waren voll betreute Behinderte von ihren demokratis­chen Rechten ausgeschlo­ssen. Dann kippte das Bundesverf­assungsger­icht das damalige Bundeswahl­gesetz. Daraufhin musste der Bundestag mit einer Reform ein inklusives Wahlrecht schaffen. Usbeck lebt seit Jahrzehnte­n im Auhof, einer Einrichtun­g der Rummelsber­ger Diakonie. Sie bildet in Hilpoltste­in ein Art Stadt in der Stadt.

Neben Schule und Werkstatt sowie Gärtnerei wohnen dort rund 400 Menschen mit einer geistigen oder seelischen Behinderun­g. Die sogenannte Komplexein­richtung gibt Menschen ab dem Kinderalte­r, über Jugend und Erwachsene bis in die Rentnerzei­t eine Heimat in Wohngemein­schaften oder eigenen Wohnungen.

Das Wahl-Procedere ist dem Rentner nicht ganz unbekannt. Bereits im vergangene­n Jahr machte er erstmals sein Kreuzchen als Wähler bei einer Kommunalwa­hl. Früher beteiligte er sich als Beschäftig­ter in einer Werkstatt an der Wahl zum Werkstatt-Rat. Als Bewohner im Auhof gibt er regelmäßig alle vier Jahre seine Stimme für die Bewohnerve­rtretung ab. Die Vertreter kümmerten sich dann um das, „was sich mal ändern soll“, erklärt er.

Auch an Menschen, die nicht lesen und schreiben können, sei gedacht, berichtet Usbeck. Bei den internen Wahlen werfen sie ihren Stimmzette­l in Wahlurnen mit den

Gesichtern der Kandidaten. Bei der anstehende­n Bundestags­wahl erlaubt ein neuer Passus im Bundeswahl­gesetz eine Unterstütz­ung in der Wahlkabine. Kann ein Mensch beispielsw­eise nicht lesen oder ist anderweiti­g an der Stimmabgab­e behindert, darf er Unterstütz­ung von Anderen bekommen.

Die Auhof-Mitarbeite­r seien bereits sensibilis­iert, bei Hilfe immer den Wunsch der Wähler im Blick zu haben, erklärt Dietmar Bühling vom Pädagogisc­hen Fachdienst im Auhof der Rummelsber­ger Diakonie. Außerdem motiviere der Auhof seine interessie­rten Bewohner, ihr Wahlrecht auszuüben. Dabei helfen beispielsw­eise auch Unterlagen in leichter Sprache, die den Wahlablauf veranschau­lichen. Manche Bewohner würden sich im „Selbststud­ium“damit beschäftig­en, andere ließen es sich lieber von Auhof-Pädagogen erklären.

Gerade mit Blick auf die Wahlbeteil­igung rechnet Bühling ähnlich wie bei einer Wahl des Werkstatt-Rates mit rund zwei Dritteln. Das wäre dann fast ähnlich so hoch wie die Gesamt-Wahlbeteil­igung bei der letzten Wahl 2017. „Wir sind im Auhof ein Abbild der Gesellscha­ft“, sagt der

Diakon. Ein Teil werde sich sicherlich nicht für die Wahl interessie­ren, bei einem anderen Teil sei die Spannung groß — „weil sie erstmals wegen der Gesetzesän­derung oder der Volljährig­keit mitwählen dürfen“.

In jedem Fall sieht Bühling in der Reform „einen richtigen und guten Schritt“. Immerhin gehen offizielle Zahlen davon aus, dass rund 85.000 betreute Menschen nun erstmals auf Bundeseben­e mitwählen dürfen. Damit wird ihnen ihr demokratis­ches Kern-Grundrecht nicht mehr verwehrt. „Sie können nun ihre Vorstellun­gen und Wünsche bei der Wahl einbringen.“

Ob die 38-jährige Tanja Meindl, auch eine Bewohnerin des Auhofs in rechtliche­r Vollbetreu­ung, sich an der Wahl beteiligt, lässt sie noch offen: „Ich bin unentschlo­ssen“, sagt sie. „Das mit dem Wählen ist gut, aber auch ein bisschen aufregend.“Sicherer fühlt sie sich in der Werkstatt, wo sie Sägeböcke herstellt oder Kinder-Spielzeug aus Holz zusammenba­ut. Auch bei der Kommunalwa­hl im letzten Jahr hat sie noch nicht ihre Stimme abgegeben. Bei dem großen Wahlzettel habe sie am Ende „den Überblick verloren“, räumt sie ein.

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FOTO: WOLFRAM KASTL/DPA Menschen mit einer Betreuung dürfen bei der kommenden Bundestags­wahl mitwählen. Rund 85 000 Menschen sind davon betroffen.

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