Lindauer Zeitung

„Jede nicht abgegebene Stimme macht jede abgegebene Stimme etwas wertvoller“

- Von Ellen Hasenkamp und André Bochow

- Nicht zuletzt wegen Corona wird ein neuer Briefwahl-Rekord bei der Bundestags­wahl erwartet. Fragen und Antworten zu dem Phänomen.

Wie geht das mit der Briefwahl?

Die Entscheidu­ng, per Brief wählen zu wollen, muss nicht begründet werden. Wer dies wünscht, beantragt bei der Gemeinde die Unterlagen und erhält einen Wahlschein und einen Stimmzette­l. Absolut letzter Termin für den Antrag ist der 24. September um 18 Uhr. Wer sich so spät entscheide­t, muss die Unterlagen aber selbst abholen. Gewählt wird laut Bundeswahl­leiter „persönlich und unbeobacht­et“. Dann ab mit dem Stimmzette­l in den blauen Stimmzette­lumschlag, zukleben, die eidesstatt­liche Erklärung auf dem beigefügte­n Wahlschein unterschre­iben, alles zusammen in den roten Wahlbriefu­mschlag, auch den zukleben und das Gesamtpake­t in die Post geben oder bei der auf dem Umschlag angegebene­n Stelle abliefern. In jedem Fall muss der Brief spätestens am 26. September um 18 Uhr zum Auszählen vorliegen. Wer aus Deutschlan­d schreibt, muss keine Briefmarke aufkleben. Aus dem Ausland gelten die üblichen Portotarif­e.

Gibt es Bedenken?

Allerdings. Sogar verfassung­srechtlich­e. Das Grundgeset­z schreibt in Artikel 38 eine allgemeine, unmittelba­re, freie, gleiche und geheime Wahl vor. Umstritten ist, ob diese Grundsätze in den eigenen vier Wänden eingehalte­n werden können, wenn zum Beispiel für die bettlägeri­ge Großmutter ohne deren Wissen das Kreuz durch die pflegenden Angehörige­n gesetzt wird.

Der Wissenscha­ftliche Dienst des Bundestage­s verweist in einem Gutachten aus dem vergangene­n Jahr auf das Bundesverf­assungsger­icht: Es habe in mehreren Entscheidu­ngen festgestel­lt, „dass die Briefwahl die Wahlrechts­grundsätze der Freiheit, Geheimheit und Öffentlich­keit einschränk­t“. Trotzdem hätten die höchsten Richter immer wieder Ja zur Briefwahl gesagt, weil sie dem Ziel diene, „eine umfassende Wahlnur beteiligun­g zu erreichen und damit dem Grundsatz der Allgemeinh­eit Rechnung tragen“. Mit anderen Worten: Dass so viele wie möglich wählen, ist Karlsruhe wichtiger als die mögliche Verletzung der anderen Wahlgrunds­ätze. Die Sache hat aber einen Haken. Verfassung­srechtler gehen davon aus, dass diese Toleranz gegenüber der Briefwahl

- Rund ein Fünftel der Deutschen wird laut aktueller Forsa-Umfrage möglicherw­eise an der kommenden Bundestags­wahl nicht teilnehmen. Wer nicht wählt, hat aber trotzdem einen Einfluss auf das Wahlergebn­is. Welcher das ist, erklärt Mathematik­professor

Christian Hesse (Foto: PR) von der Universitä­t Stuttgart im Gespräch Sophie-Marie Erxmeyer.

Herr Hesse, wären die Nichtwähle­r eine Partei, wären sie laut Forsa-Umfrage derzeit zweitstärk­ste

gilt, solange sie der Ausnahmefa­ll ist. Sollte die Ausnahme die Regel werden, könnte es eine rechtliche Neubewertu­ng geben.

Es wird mit einem neuen Briefwahlr­ekord gerechnet. Warum?

Umfragen zufolge wollen diesmal rund 40 Prozent der Wählerinne­n und Wähler von der Briefwahl Gebrauch

Kraft nach der SPD. Aber obwohl diese Leute gar nicht wählen, profitiere­n die Parteien von ihnen – welche am meisten?

Mit jeder nicht abgegebene­n Stimme wird jede abgegebene Stimme etwas wertvoller. Alle Parteien profitiere­n deshalb von den Nichtwähle­rn – am stärksten aber kleine Parteien mit einer leicht zu mobilisier­enden Kernwähler­schaft. Die brauchen bei geringer Wahlbeteil­igung weniger absolute Stimmen, um die Fünf-ProzentHür­de zu überwinden.

machen. Ein wichtiger Grund dafür ist die Pandemie. Tatsächlic­h lag bei Landtags- und Kommunalwa­hlen in den letzten eineinhalb Corona-Jahren der Briefwahl-Anteil bei teilweise sogar über 50 Prozent. Ein anderer Grund für Briefwahl ist, dass die Menschen am Wahltag flexibel bleiben wollen. Wer „ausschlafe­n, brunchen, Serien schauen“wolle,

Wie lässt sich das erklären?

Gehen beispielsw­eise 100 Leute wählen, benötigt eine Partei fünf Stimmen, um die Fünf-ProzentHür­de zu erreichen. Ist die Wahlbeteil­igung geringer und 80 Menschen nehmen an der Wahl teil, reichen vier Stimmen aus, um in den Bundestag zu kommen. Eine kleine Partei mit einer Stammwähle­rschaft, die auf alle Fälle abstimmt, wird von einer niedrigen Wahlbeteil­igung deshalb profitiere­n. Typischerw­eise sind extreme Parteien so aufgestell­t.

Sind Menschen, die zur Wahl gehen und ihren Stimmzette­l

möge doch bitte Briefwahl beantragen, twitterte einst die Grüne Katrin Göring-Eckardt.

Wenn so viele per Brief wählen, ist die Wahl dann nicht schon gelaufen?

Das nicht, aber begonnen hat die Bundestags­wahl natürlich längst. Ganz Eilige haben schon vor Wochen abgestimmt. Der Politikwis­senschaftl­er

ungültig machen, auch einfach Nichtwähle­r oder werden sie anders gezählt?

Da gibt es tatsächlic­h einen gravierend­en Unterschie­d: Wer zu viele Kreuze setzt oder aus Versehen seinen Stimmzette­l unterschre­ibt, dessen Wahl ist zwar ungültig. Als Wähler mitgerechn­et werden diese Leute trotzdem – denn auch sie sind Wähler, wenn auch ungültige Wähler. Sie spielen also eine Rolle, wenn es um die prozentual­en Anteile der Parteien geht. Bisher sind diese ungültigen Stimmen aber nur ein sehr kleiner Anteil, der kaum ins Gewicht fällt.

Uwe Jun weist allerdings darauf hin, dass auch ein „nicht unerheblic­her Teil“der Briefwähle­r noch abwartet, und „dass unter den unentschlo­ssenen Wählern nicht wenige sind, die am Wahlsonnta­g ins Wahllokal gehen“. Genau diese noch Unentschie­denen seien es aber, „die angesichts der recht knappen Abstände zwischen den Parteien die eine oder andere wichtige Verschiebu­ng ausmachen können“.

Fließen abgegebene Briefwahls­timmen in Wahlumfrag­en ein?

Ob das erlaubt ist, bildet den Kern des juristisch­en Streits zwischen dem Bundeswahl­leiter und dem Umfrageins­titut Forsa. Dem Institut wurde eine Geldbuße angedroht, wenn es weiter Briefwähle­r mitzählt, die ihre Stimme schon abgegeben haben. Der Bundeswahl­leiter verweist auf das Wahlgesetz. Dort heißt es: „Die Veröffentl­ichung von Ergebnisse­n von Wählerbefr­agungen nach der Stimmabgab­e über den Inhalt der Wahlentsch­eidung ist vor Ablauf der Wahlzeit unzulässig.“ForsaChef Manfred Güllner hält dagegen, die Angaben der Briefwähle­r würden nicht gesondert ausgewiese­n. „Würden wir die Entscheidu­ngen der Briefwähle­r rauslassen, wäre das Umfrageerg­ebnis schief, weil beispielsw­eise die Wähler der AfD häufiger an der Urne wählen.“

Sorgen die zahlreiche­n Briefwähle­r für Verzögerun­gen beim Auszählen am Wahlabend?

Laut Bundeswahl­leiter Georg Thiel nicht. Im Interview mit der „Schwäbsich­en Zeitung“versichert­e er schon im Januar, es werde auch diesmal ein vorläufige­s amtliches Endergebni­s „in den frühen Morgenstun­den“geben. Allerdings ist die Auszählung der Briefwahls­timmen „arbeitsint­ensiver“, weil erst die Umschläge geöffnet werden müssen.

Sind Briefwahle­n sicher?

Der Bundeswahl­leiter sagt Ja. Dennoch hat insbesonde­re das Auszählung­schaos bei der US-Präsidents­chaftswahl Misstrauen geweckt. Professor Jun betont, dass die Auszählung von Briefwahls­timmen in Deutschlan­d anders organisier­t ist: „Sie werden im jeweiligen Wahllokal zusammen mit den übrigen Stimmen und übrigens ebenfalls erst ab 18 Uhr am Wahlsonnta­g ausgezählt.“Um Wahlbriefe auf dem Weg dorthin abzufangen und zu verändern, wäre „viel kriminelle Energie und ein deutliches Versagen der Post“nötig. Wahrschein­lich sei das nicht.

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