Risiken und Nebenwirkungen der Liebe
Peter Stamms neuer Roman „Das Archiv der Gefühle“
Die Helden von Peter Stamms Romanen fallen aus dem Rahmen. Fast ausnahmslos schreibt der Schweizer über ungewöhnliche bis exzentrische Gestalten. Man könnte meinen, dass, je eigentümlicher ein Charakter, desto eher eignet er sich als Stamm’scher Protagonist.
Ein schräger Vogel ist auch der Icherzähler des neuen Romans, dessen Namen wir nicht erfahren. Am wohlsten fühlt er sich in der Anonymität, so wie er am Leben nur aus großer innerer Distanz teilnimmt. Nach dem Studium arbeitet er als Pressearchivar bei einer Zeitung – eine Tätigkeit, die so gut zu ihm passt, dass er, als das Archiv infolge Digitalisierung irgendwann aufgelöst und er entlassen wird, es samt Regalsystem übernimmt und im Keller seines Hauses aufbaut.
Fortan besteht seine einzige Beschäftigung darin, das Archiv privat weiterzuführen. Er tut es in nachgerade obsessiver Weise. Buchstäblich alles soll darin Eingang finden. Es ist eine an Besessenheit grenzende Weise der Vermessung der Welt.
Der Leser fragt sich, warum da einer die Wirklichkeit derart penibel in Kategorien, Klassen und Unterklassen unterteilt. Die Antwort lautet: Weil ihm anderenfalls die Welt über den Kopf wachsen würde, genauer: seine Gefühle. Gegen ihre Intensität und Übermacht errichtet der Held in „Das Archiv der Gefühle“, so der Romantitel, gleichsam Brandmauern des Geistes – eben in der strengen Kategorisierung und Klassifizierung der Welt.
Gefühle lassen sich nur schwer lenken, sie sind unberechenbar und plötzlich einfach da. So wie die Liebe des Archivars zu Franziska: eine Sandkastenliebe, jedenfalls vonseiten des Helden. Irgendwann brachte er als Jugendlicher den Mut auf, Franziska seine Liebe zu gestehen, die sie jedoch nicht erwiderte. Später hat er Frauenbeziehungen, doch die Liebe zu Franziska erhält sich ungeschmälert. Ja, sie wächst, je länger sie unerfüllt bleibt, desto üppiger in seiner Phantasie und Gefühlswelt. Dabei haben sich die beiden zum Zeitpunkt der Romanhandlung seit bald dreißig Jahren nicht mehr gesehen.
Es ist von geradezu frappierender Meisterschaft, wie es Stamm gelingt, den Leser hineinzuziehen in die Gedankenund Phantasiewelt seines sonderbaren Helden, ihn an seinen Gefühlen unmittelbar teilhaben lässt. Der hält es in dem selbst geschaffenen Gefühlskorsett schließlich nicht mehr aus. Er löst das Archiv auf und lässt es entsorgen.
Einerseits fühlt er sich danach befreit, andererseits ist da eine große Leere. Diese sucht er aufzufüllen, indem er wieder den Kontakt zu Franziska anknüpft. Die beiden telefonieren miteinander, sie mailen und verabreden sich. Und es stellt sich heraus, dass auch Franziska seinerzeit Gefühle für den Helden entwickelt hatte. Nur nahm er ihre zarten Andeutungen nie wahr. Ob Stamm seinen Lesern tatsächlich ein Happy End gönnt, sei nicht verraten. Wenn, dann eines mit allen Risiken und Nebenwirkungen, die mit Gefühlen verbunden sind. (dpa)
Peter Stamm: Das Archiv der Gefühle. S. Fischer Verlag, 189 Seiten, 22 Euro.