Lindauer Zeitung

Kein Ruhestand für den Rastlosen

Minister Gerd Müller nimmt nach 27 Jahren Abschied von Berlin, aber nicht von der Entwicklun­gspolitik

- Von Claudia Kling

- Für die Personensc­hützer des Bundeskrim­inalamtes muss die Reise in den Nordirak das Grauen gewesen sein. Ein Minister, mitten in den unübersich­tlichen Ruinen der zerstörten Stadt Mossul. Die meisten anderen in der Gruppe überragte er um mindestens einen Kopf – da hilft die Schutzwest­e am Oberkörper wenig. Doch Gerd Müller machte sich in diesem Moment offensicht­lich nicht allzu große Gedanken um seinen eigenen Schutz. Er ließ sich neben dem Betongerip­pe eines früheren Krankenhau­ses interessie­rt die Sprengfall­en erklären, die als Hinterlass­enschaft der Terrormili­z „Islamische­r Staat“in Mossul zurückgebl­ieben waren. Auch das Wissen, dass sich nach wie vor IS-Kämpfer in der Gegend versteckt hielten, schreckte den Entwicklun­gsminister nicht von seinem Besuch im April 2018 ab. Da war die Stadt gerade einmal vor zehn Monaten aus der Hand der Islamisten befreit worden.

Gerd Müller hatte bei seinem Besuch eine Botschaft: Er wollte, dass die Welt davon erfährt, was die Menschen im Irak erlitten haben, vor allem auch die kleine Volksgrupp­e der Jesiden, die Opfer eines Völkermord­es wurde. Und er wollte zeigen, warum es so wichtig ist, dass Deutschlan­d, aber auch Europa und die ganze Weltgemein­schaft vor Ort helfen, wenn Menschen in Not sind. Dieses Vorgehen ist typisch für den CSU-Politiker: Wenn er sich etwas vorgenomme­n hat, dann verfolgt er dieses Ziel konsequent, man kann auch sagen, mit bayerische­r Sturheit. Auch wenn es für ihn gefährlich werden könnte – oder zumindest politisch ungemütlic­h.

„Ich habe aus meinem Amt das gemacht, was mir möglich war, nach der Papstvorga­be ,Laudato si‘ – Verantwort­ung an Deiner Stelle. Da muss man auch mal laut werden“, sagt der Minister der „Schwäbisch­en Zeitung“am Dienstag. Vor einem Jahr hat er, für viele überrasche­nd, angekündig­t, nach 27 Jahren im Bundestag nicht mehr kandidiere­n zu wollen – und Abschied zu nehmen von der Bundespoli­tik. Doch den Ruhestand strebt der 66-Jährige, der vor seiner Zeit im Bundestag fünf Jahre Europaabge­ordneter war, noch nicht an. Er wird Generalsek­retär der Unido, die ihren Sitz in Wien hat, einer Sonderorga­nisation der Vereinten Nationen für die industriel­le Entwicklun­g.

Wer mit dem CSU-Politiker aus dem Wahlkreis Oberallgäu, der verheirate­t ist und zwei Kinder hat, in der weiten Welt unterwegs ist, sollte Energie haben, auch in Form von essbaren Riegeln. Wenn Gerd Müller in asiatische­n oder afrikanisc­hen Ländern vor Ort ist, will er möglichst viel mit eigenen Augen sehen, er möchte es genau wissen, wie die Arbeitsbed­ingungen in Textilfabr­iken oder beispielsw­eise in einem geförderte­n Projekt zur Verarbeitu­ng von Cashewnüss­en in Ghana sind. Er fragt Näherinnen und Arbeiter, ob sie mit ihrem Job zufrieden sind und davon auch leben können. Pausen gönnt er sich so gut wie keine, sein Tempo ist enorm. Deshalb kann es als Begleitung

Gerd Müller wird das diesjährig­e Bodensee Business Forum eröffnen. Der Minister diskutiert über die globale Corona-Impfgerech­tigkeit. Was muss mit Afrika geschehen, damit die Pandemie weltweit besiegt werden kann? Unter dem Leitmotto „Vernetzen statt verzweifel­n: Ideen für eine

Welt im Wandel“treffen bei der vierten Auflage der Tagung am 20. Oktober im Graf-Zeppelin Haus in Friedrichs­hafen am Bodensee mehr als 40 TopEntsche­ider zusammen. Informatio­nen und Eintrittsk­arten gibt es unter: www.schwäbisch­e.de/bbf (sz)

sinnvoll sein, Reiseprovi­ant in der Tasche zu haben.

Das Tempo, das er selbst vorlegt, würde er sich auch von anderen Politikern wünschen, die noch mehr als er Einfluss nehmen könnten auf das Weltgesche­hen. Damit der Klimaschut­z vorankommt, damit nicht so viele Menschen hungern müssen, damit faire Löhne bezahlt werden und damit der Reichtum etwas gerechter verteilt ist auf dieser Erde. Müllers Themenlist­e ist lang und lässt sich, das ist ihm bewusst, nur im Verbund mit anderen abarbeiten. Doch nicht alle Kollegen am Kabinettst­isch konnten in den vergangene­n Jahren nachvollzi­ehen, dass ihm auch faire Löhne in Afrika, Asien und Südamerika ein Herzensanl­iegen sind – und nicht nur die Interessen der heimischen Wirtschaft in Deutschlan­d. Bestes Beispiel dafür: der Widerstand gegen das Lieferkett­engesetz.

„Eine Näherin in Äthiopien verdient 15 Cent pro Stunde, arbeitet sechs Tage in der Woche und hat am Ende des Monats Probleme, ihre Familie zu ernähren. Das können wir doch nicht einfach so hinnehmen“, sagte Müller in einem Interview in der „Schwäbisch­en Zeitung“im Jahr 2018. Es dauerte aber noch drei weitere Jahre, bis das Lieferkett­engesetz kurz vor dem Ende der Legislatur­periode verabschie­det werden konnte. Der Gegenwind kam bei diesem Projekt, das Müller zusammen mit SPDArbeits­minister Hubertus Heil vorantrieb, nicht vom politische­n Gegner, sondern aus der Union selbst – in Person des CDU-Wirtschaft­sministers Peter Altmaier.

Da mussten dicke Bretter gebohrt werden, bis nach langem Hin und Her und etlichen Kompromiss­en das Vorhaben durchs Kabinett ging. Seither sind große Unternehme­n verpflicht­et, während der gesamten Lieferkett­e, sprich vom Rohstoff bis zum fertigen Produkt, auf Menschenre­chte zu achten. In Müllers Augen hat sich der Kampf gelohnt. Langfristi­g werde das „die größte Wirkung in der Schaffung von Arbeitsplä­tzen und in der gerechtere­n Verteilung von Arm und Reich haben“, sagt er. „Das sind Strukturen, die grundlegen­de Veränderun­gen für eine gerechte Globalisie­rung herbeiführ­en.“

Auch der Grüne Knopf, das erste staatliche Textilsieg­el in Deutschlan­d, mit dem nachhaltig produziert­e Textilien gekennzeic­hnet werden können, geht auf die Initiative des Entwicklun­gsminister­s zurück. Nach zwei Jahren haben sich 78 Unternehme­n zertifizie­ren lassen. 150 Millionen Textilien seien bis zum zweiten Jahrestag am 9. September verkauft worden, vermeldete das Ministeriu­m vor Kurzem stolz. Einige Nichtregie­rungsorgan­isationen sehen den Grünen Knopf allerdings mit Skepsis, weil er mit Blick auf die Menschenre­chte nicht das halte, was er verspreche. Eine Einschätzu­ng, die der Minister, wenig überrasche­nd, nicht teilt. Der Grüne Knopf sei eine Erfolgsges­chichte, so Müller.

Gerd Müller, wer diesen Namen googelt, stößt als Erstes auf eine lange Liste von Artikeln über den Fußballspi­eler, der vor wenigen Wochen mit 75 Jahren verstorben ist.

Den gleichnami­gen Entwicklun­gsminister muss man dagegen fast suchen, was darauf schließen lässt, dass sein Bekannthei­tsgrad größer sein könnte. Dass ihm der andere Müller in der Internetpr­äsenz meilenweit voraus ist, stört den Minister allerdings kein bisschen. „Gerd Müller war mein Jugendvorb­ild“, sagt er. Er sei immer „richtig stolz“gewesen, denselben Namen wie die Fußballleg­ende zu haben. Von dessen weltweiter Popularitä­t profitiere er auch als Entwicklun­gsminister. „Dieser Name öffnet mir heute noch Türen in Afrika, in China, auf der ganzen Welt.“Durch viele dieser Türen ist er gegangen während seiner Amtszeit.

Wer den Minister in den vergangene­n Jahren begleitet hat, war immer wieder beeindruck­t, vielleicht sogar überrascht, mit welchem Feuereifer der gebürtige Krumbacher aus Bayerisch-Schwaben für den afrikanisc­hen Kontinent wirbt. Afrika ist für ihn – trotz aller offensicht­lichen Probleme – ein Kontinent mit gigantisch­en Chancen für die deutsche

ANZEIGE

Wirtschaft. „Von den zehn der am schnellste­n wachsenden Volkswirts­chaften sind fünf auf dem afrikanisc­hen Kontinent, Afrika hat weltweit das zweitgrößt­e Wachstum nach Ostasien“, sagte er 2018 im Interview. Mit einem „Marshallpl­an mit Afrika“wollte er eine wirtschaft­liche Entwicklun­g „auf Augenhöhe“vorantreib­en, unter anderem um Fluchtursa­chen auf dem Kontinent zu bekämpfen. Doch auch das erwies sich als zähes Unterfange­n. Die Unternehme­n, die es braucht, um Arbeitsplä­tze in Ländern wie Ghana und Elfenbeink­üste zu schaffen, hielten sich zurück. Dann kam die Corona-Pandemie und machte vieles zunichte.

Doch Gerd Müller wird auch weiterhin dafür kämpfen, Arbeitsmög­lichkeiten dort zu schaffen, wo Millionen junger Menschen Jobs brauchen, um sich und ihre Familien ernähren zu können – künftig eben nicht mehr als deutscher Entwicklun­gsminister, sondern an der Spitze der Unido. Diese UNSonderor­ganisation hat die Aufgabe, in ärmeren Ländern eine nachhaltig­e industriel­le Entwicklun­g zu fördern. Dass er als erster Europäer und Deutscher zum Generalsek­retär der Organisati­on gewählt wurde, freut Müller – die neue Aufgabe reizt ihn. „Das ist die natürliche Fortsetzun­g meiner Arbeit auf UN-Ebene“, sagt er. „Es wäre schade gewesen, wenn ich meine Erfahrunge­n, Kontakte, mein Wissen einfach mit in den Lehnstuhl genommen hätte.“

Wer ihm zuhört, hat allerdings recht schnell den Eindruck, dass es noch etwas anderes als Wissen und Kontakte sein muss, was ihm das Politikren­tner-Dasein verleidet. Bei seinen Reisen hat der Entwicklun­gsminister viel Elend auf dieser Erde gesehen, Menschen, die in erbärmlich­sten Verhältnis­sen leben, weil sie wegen Kriegen, Hungersnöt­en und anderer Katastroph­en ihre Heimat verlassen mussten. Die keine Chance haben, aus eigener Kraft aus ihrer Misere herauszuko­mmen. Die leiden, weil sie Opfer von ungezügelt­en Machtinter­essen wurden – oder bereits jetzt die Folgen des Klimawande­ls tragen, der vor allem von den Industries­taaten verursacht wurde. Diese Bilder scheinen für den CSU-Politiker ein fortwähren­der Antrieb zu sein, weiterzuma­chen im Kampf gegen Armut und Ungerechti­gkeit. Denn Müller, dessen Eltern selbst Landwirte im Allgäu waren, ist davon überzeugt, dass die Erde sehr viel mehr Menschen ernähren könnte, wenn es gerechter zuginge.

„Eine Welt ohne Hunger und die Linderung des Flüchtling­sleids in den großen Flüchtling­szentren der Welt“, antwortet er auf die Frage, welches Vorhaben für ihn in den vergangene­n acht Jahren als Entwicklun­gsminister das wichtigste war. „Klimawande­l und Hunger gehören zusammen. Wo Hunger, Not und Elend herrscht, kommt es zu Aggression­en und Krieg – siehe Mali und die Sahelregio­n. Und wo es Hunger, Not und Krieg gibt, entstehen Fluchtbewe­gungen“, sagt er. Diese Zusammenhä­nge müssten in Zukunft noch sehr viel stärker berücksich­tigt werden.

Er weiß, dass er seiner Nachfolger­in oder seinem Nachfolger ein großes Paket ungelöster Probleme übergeben wird, auch weil die Corona-Pandemie die Ärmsten der Armen hart getroffen hat. Müller will nach dieser Krise wieder den Turbo einlegen – wie jetzt schon im Gespräch. In seinem eindringli­chen Appell-Ton, in dem jedes Wort eine Botschaft ist, fordert er eine bessere globale Vernetzung, um Probleme wie den Klimawande­l und die Pandemie in den Griff zu bekommen. Es brauche einen „internatio­nalen Verbund“, um Fortschrit­te zu erzielen. Für ihn sei es nicht nachvollzi­ehbar, „dass wir so viele Themen so regional und provinziel­l angehen“. Diese Aufgabe wird ihn auch als Unido-Generalsek­retär begleiten.

 ??  ??
 ?? FOTOS: IMAGO IMAGES ?? Sich selbst ein Bild machen, das ist für Entwicklun­gsminister Gerd Müller wichtig: In Äthiopien besuchte er ein Dorf in der Somali-Region, wo sich Nomaden wegen der Dürre im Land an einem Brunnen angesiedel­t haben. Im Nordirak reiste er auch in die zerstörte Stadt Mossul.
FOTOS: IMAGO IMAGES Sich selbst ein Bild machen, das ist für Entwicklun­gsminister Gerd Müller wichtig: In Äthiopien besuchte er ein Dorf in der Somali-Region, wo sich Nomaden wegen der Dürre im Land an einem Brunnen angesiedel­t haben. Im Nordirak reiste er auch in die zerstörte Stadt Mossul.

Newspapers in German

Newspapers from Germany