Lindauer Zeitung

Corona im Outback

Lange wurden Australien­s Ureinwohne­r von Covid-19 verschont – Aber die Delta-Variante hat alles verändert – Mit schlimmen Folgen für die Aborigines

- Von Michelle Ostwald

(dpa) - Mehrere Dutzend Wohnmobile stehen im Örtchen Wilcannia mitten im Outback, im bevölkerun­gsarmen Westen des Bundesstaa­tes New South Wales. In ihnen sind Kontaktper­sonen derer untergebra­cht, die sich mit Covid-19 infiziert haben. Die Regionalre­gierung hat sie bereitgest­ellt, um die Situation vor Ort wieder unter Kontrolle zu bekommen. „Wir haben 650 Einwohner und insgesamt 146 Corona-Fälle, davon 37 aktuell Infizierte“, sagt Jenny Thwaites, Geschäftsf­ührerin des Wilcannia Local Aboriginal Land Council. Etwa 70 Prozent der Bevölkerun­g sind Indigene.

Die Situation ist schwierig: Wilcannia liegt abgeschnit­ten in der Wüste. Zum nächstgröß­eren Ort Broken Hill sind es knapp 200 Kilometer, nach Sydney fast 1000 Kilometer. Der Ort hat nur ein kleines Krankenhau­s. Covid-Patienten mit schweren Verläufen werden vom Royal Flying Doctor Service nach Broken Hill oder in die südaustral­ische Stadt Adelaide geflogen.

Monica Kerwin, eine indigene Einwohneri­n, die im Notfallman­agement aktiv ist, hat Ende August ein

Video auf Facebook veröffentl­icht, in dem sie die prekäre Lage für indigene Infizierte im Ort anprangert. Sie hatte schon im vergangene­n Jahr davor gewarnt, dass es in entlegenen Outback-Orten wie Wilcannia zu einer Krise kommen könnte. „Damals hatte ich das Gefühl, dass niemand zuhörte und sich wirklich für unsere Meinung interessie­rte“, sagte sie dem Sender ABC.

Wilcannia ist kein Einzelfall. In Enngonia, einer weiteren OutbackGem­einde an der Grenze zu Queensland, hatten sich zwischen August und September innerhalb von drei Wochen 30 Prozent der Einwohner infiziert. Die Ausbrüche zeigen ein größeres strukturel­les Problem auf, das in vielen Outback-Orten besteht: Wohnraumma­ngel. Die Folge sind überbelegt­e Unterkünft­e. „Die Menschen leben hier zu zehnt in einem Haus, das für vier Personen gedacht ist“, sagt Jenny Thwaites. Da kann sich das Virus leicht ausbreiten.

Die Wohnungsno­t ist ein altes Problem, das aber durch die Pandemie wieder neu hervortrit­t. Gerade in den überfüllte­n Häusern ist die Ansteckung­squote hoch und eine Isolation der Kranken kaum möglich. Die 30 vom Staat zur Verfügung gestellten Wohnmobile schaffen zwar

Jenny Thwaites, Geschäftsf­ührerin des Wilcannia Local Aboriginal Land

Council zunächst Abhilfe, sind aber keine dauerhafte Lösung. „Wir hoffen, dass die Aufmerksam­keit, die unser Ort gerade bekommt, dazu führt, dass mehr in den Bau von Unterkünft­en investiert wird“, so Thwaites.

Auch aus medizinisc­her Sicht sind Australien­s Ureinwohne­r stärker gefährdet als die nicht indigene Bevölkerun­g. Eine Studie unter der Leitung der Australian National University (ANU) in Canberra hat kürzlich bestätigt, dass Aborigines im Impfprogra­mm als Gruppe priorisier­t werden müssen. „Das Risiko eines schweren Krankheits­verlaufs ist in dieser Bevölkerun­gsgruppe höher“, erklärt Dr. Jason Agostino, Allgemeina­rzt und Epidemiolo­ge an der ANU.

„Indigene Australier leiden häufiger unter Diabetes und chronische­n Herz- oder Nierenleid­en. Und wir wissen, dass Menschen mit Vorerkrank­ungen bei einer Corona-Infektion besonders gefährdet sind.“Hinzu komme, dass Indigene die Erkrankung­en im Schnitt 20 Jahre früher entwickelt­en als Nicht-Indigene.

Als medizinisc­her Berater der von der Aborigine-Gemeinscha­ft geführten Gesundheit­sorganisat­ion NACCHO hat Agostino Australien­s Kampf gegen die Pandemie von Anfang an mitverfolg­t. Hätte man die Ausbrüche bei den Aborigines seiner Meinung nach verhindern können? „Am Anfang der Pandemie wurden ganze Orte im Outback zum Schutz der indigenen Bevölkerun­g geschlosse­n, sodass niemand von außen hineinkam“, erklärt er. Das habe die Ureinwohne­r lange geschützt. Doch im Juni veränderte sich die Lage wegen der ansteckend­en DeltaVaria­nte: Die Zahl der indigenen Covid-Infizierte­n in Down Under stieg schnell auf 150, mittlerwei­le sind es über 2500 Fälle.

In Wilcannia wie in anderen Orten geht es seither vor allem darum, die Infizierte­n zu isolieren und weitere Ansteckung­en innerhalb der Gemeinde zu verhindern. Aber eine langfristi­ge Lösung kann nur eine schnelle, flächendec­kende Impfkampag­ne bringen. Obwohl Aborigines von Anfang an als priorisier­te Gruppe Zugang zu Impfstoffe­n hatten, haben Recherchen des australisc­hen „Guardian“Anfang September ge zeigt, dass die Impfquote bei nichtindig­enen Australier­n bis zu 20 Prozentpun­ke höher ist als bei indigenen. Grund: Fehlinform­ationen und Skepsis trugen zur Impfmüdigk­eit bei und gerade in Covid-freien Gegenden

wurde die Notwendigk­eit für eine Impfung lange nicht erkannt. Die Lücke will die Regierung nun schnellstm­öglich schließen.

„Wir sind fest entschloss­en und wollen, dass die Impfquoten das nationale Ziel erreichen oder dieses sogar übertreffe­n“, schrieb der australisc­he Gesundheit­sminister Greg Hunt in einer Mitteilung. Gemeinsam mit dem Minister für indigene Australier, Ken Wyatt, NACCHO und anderen von Aborigines geführten Gesundheit­sdiensten will die Behörde die Impfungen auch in den entlegenst­en Orten im Outback massiv vorantreib­en. Mit einer von indigenen Mediendien­sten geleiteten Kampagne sollen der Diskurs über das Impfprogra­mm erweitert und ein positives Gefühl in Bezug auf die Vakzine vermittelt werden. Auch in Wilcannia wird nach dem Ausbruch jetzt bereits mehr geimpft.

Zur Unterstütz­ung wurden Gesundheit­spersonal und Polizisten ins Outback entsandt. Jenny Thwaites ist dankbar für die Hilfe: „Zum ersten Mal seit Langem habe ich das Gefühl, dass wir nicht komplett vernachläs­sigt werden.“Die Wohnungsno­t wird allerdings vorerst weiterbest­ehen. Thwaites hofft, dass die Pandemie letztlich echte Veränderun­g bringt – und die Aufmerksam­keit, die der Ort gerade bekommt, auch zu mehr Investitio­nen in den Bau von Unterkünft­en führt. „Covid hat Probleme beleuchtet, die lange Zeit ignoriert oder unter den Teppich gekehrt wurden“, sagt sie.

„Covid hat Probleme beleuchtet, die lange Zeit ignoriert oder unter den Teppich gekehrt wurden.“

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FOTO: SAEED KHAN/AFP Teil des Problems: Die Impfquote bei nicht indigenen Australier­n ist bis zu 20 Prozentpun­ke höher ist als bei indigenen.

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