Der Arbeitsmarkt wandelt sich rasant
Experten sehen Trend zu Vollbeschäftigung – Fachkräftemangel wird akut – Mehr Zuwanderung für Wohlstand nötig
- Mehr Beschäftigte, mehr offene Stellen, weniger Kurzarbeit, weniger Menschen ohne Job: Deutschland hat die Corona-Krise bisher gut verkraftet. Und die Arbeitsmarktzahlen deuten noch auf etwas anderes hin. Die Zeiten, in denen sich große Teile der Bevölkerung Sorgen machen musste, wenn sie ihre Arbeit verloren, sind vorbei. Massenarbeitslosigkeit gehört offenbar der Vergangenheit an. Dafür drohen andere Probleme.
Zunächst die Zahlen: In Deutschland waren im September 33,7 Millionen Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt, rund 300 000 mehr als vor der Pandemie. „Ohne Corona hätte der Wert sicher noch höher gelegen“, sagt Daniel Terzenbach, Vorstand der Bundesagentur für Arbeit. 2,47 Millionen Menschen suchten Arbeit, die Arbeitslosenquote betrug 5,4 Prozent. Ohne den Corona-Effekt – noch sind 930 000 Beschäftigte in Kurzarbeit – wären es 4,9 Prozent gewesen.
Die Jugendarbeitslosigkeit ist auf dem niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung, die Zahl der offenen Stellen hat das Vorkrisenniveau mit 799 000 deutlich überschritten. Und das sind nur die Stellen, die bei der
Bundesagentur für Arbeit gemeldet sind. „Die Herbstbelebung ist deutlich höher ausgefallen als üblich“, sagt Terzenbach.
Die Zeiten zweistelliger Arbeitslosenquoten sind offenbar vorbei. Noch 2005 suchten rund fünf Millionen Menschen Arbeit, die Quote lag bundesweit bei 13 Prozent. 2019, vor Corona, waren es 5,5 Prozent. Jetzt geht der Trend Richtung unter fünf Prozent. Alexander Herzog-Stein vom IMK in
Düsseldorf, dem Forschungsinstitut der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, hält noch niedrigere Werte für möglich: „Bei der Arbeitslosenquote ist noch Luft nach unten. Wir können auch unter vier Prozent kommen.“Die Folge: „Wir kommen in eine Fachkräfteknappheit“, sagte Bundesagentur-Vorstand Terzenbach. Schon vor Monaten warnte seine Behörde, Deutschland würden künftig 400 000 Fachkräfte fehlen – jährlich.
„Wir nähern uns dem Ideal der Vollbeschäftigung“, sagte Friedrich Pfeiffer, Arbeitsmarktexperte des Zentrums für europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim. Vor allem in Baden-Württemberg und Bayern, wo die Arbeitslosenquote deutlich unter vier Prozent liegt, ist es schwer, Arbeitskräfte zu finden. Nicht so optimistisch ist IMK-Experte Herzog-Stein. „Vollbeschäftigung wird es allenfalls in bestimmten Branchen und Regionen geben.“Und auch sonst dämpft er Erwartungen, dass sich die Situation für alle Arbeitnehmer auszahlt. „Einen überhitzten Arbeitsmarkt mit Arbeitskräftemangel, in dem die Löhne in der Breite sehr kräftig steigen, halte ich für unwahrscheinlich.“
Für die Zukunft ist auch Pfeiffer skeptisch: „Auch wenn die Zahlen am Arbeitsmarkt jetzt sehr gut aussehen, heißt das nicht, dass es in den nächsten zehn Jahren so bleiben wird.“Der lange Aufschwung zwischen 2009 und 2018 sei schon einmalig. Der Dämpfer durch die Pandemie sei durch Kurzarbeit sehr gut abgefedert worden, sagt der ZEWExperte. Deutschland habe in den vergangenen 20 Jahren vor allem von der Exportstärke profitiert.
Die Herausforderungen in Deutschland: „Die Wirtschaft steht vor einer tiefgreifenden Transformation durch Dekarbonisierung und Digitalisierung. Das wird den Arbeitsmarkt verändern“, sagt HerzogStein. Oder, wie Bundesagentur-Vorstand Terzenbach formuliert: „Die Arbeit wird nicht ausgehen, sie wird sich aber verändern.“Vor allem würden Jobs entstehen, die eine bessere Ausbildung erforderten.
Eine weitere wichtige Aufgabe ist aus Sicht der Bundesagentur, Zuwanderung strukturiert zu regeln. Deutschland habe perspektivisch viel zu wenig Arbeitskräfte, um den Wohlstand zu erhalten, sagt Terzenbach. „Wir brauchen attraktive Voraussetzungen für Zuwanderung, die Hürden sind noch zu hoch.“Denn Deutschland stehe im Wettbewerb mit den USA, Japan, China um die besten Arbeitskräfte.