Lindauer Zeitung

Höchste Eisenbahn

Das Schweizer Jungfraujo­ch lockt mit spektakulä­ren Aussichten, einer Gletscherw­anderung und einer Zahnradbah­n

- Von Ludger Möllers

Platz, viel Platz. Ruhe, viel Ruhe. Und vor allem die freie Aussicht auf die grandiose Bergwelt von Eiger, Mönch und Jungfrau: Auf den plüschig-roten Sitzen in den Wagen der Jungfrauba­hn sitzen an diesem Donnerstag­vormittag nur wenige Touristen, die dieses Panorama genießen wollen.

Im ersten Halbjahr 2021 reisten nur 137 400 Besucherin­nen und Besucher zum Jungfraujo­ch: „In guten Jahren schieben die Elektrotri­ebwagen von Anfang Januar bis Ende Juni 450 000 Besucher nach oben“, sagt Dario Gross, Market Manager der Jungfrauba­hn, „zwei Drittel von ihnen kamen bisher aus Übersee.“Doch in Zeiten der Pandemie fehlen die Besucher aus den USA, Kanada, Südamerika, Japan und China, die auf ihrer Reise durch die Schweiz den geographis­chen Höhepunkt, das Jungfraujo­ch auf 3454 Metern Höhe besuchen wollen. Daher ergibt sich in diesem Herbst die Chance, sehr entspannt den „Top of Europe“zu entdecken. Dort präsentier­en die eidgenössi­schen Marketingf­achleute ihre Superlativ­e: das höchstgele­gene Restaurant Europas, die höchstgele­gene Shopping-Mall des Kontinents und den höchstgele­genen Eispalast des Abendlands.

Doch die wahren Attraktion­en warten auf der Anreise und im ewigen Eis. Unbedingt zu empfehlen ist die gemütliche Fahrt auf der traditione­llen Strecke statt des rasanten Trips in der neuen Seilbahn: Zwar ist der Eiger Express um 43 Minuten schneller als die Zahnradbah­n, bietet spektakulä­re Ausblicke auf die Bergwelt und soll im Normalfall gut 2200 Personen pro Stunde zum Eigerglets­cher transporti­eren, unter CoronaBedi­ngungen sind es immerhin noch knapp 1500. Doch nicht nur Technikode­r Eisenbahnf­reaks sind viel stärker fasziniert von der Zahnradbah­n, in die man auf der Kleinen Scheidegg, am Fuße des gigantisch­en Eiger, einsteigt. Auf 9,3 Kilometern überwindet der elektrisch getriebene Zug in 44 Minuten mit zwei Stopps einen Höhenunter­schied von 1393 Metern. Der größte Teil der Strecke führt durch einen Tunnel im Bergmassiv von Eiger und Mönch.

Wer im Winter mit Ski oder Snowboard unterwegs ist, nimmt ab dem Zwischenha­lt an der ersten Station Eigerglets­cher eine der vielen Abfahrtsro­uten. Und wer im Sommer Wanderlust verspürt, hat hier die Wahl zwischen alpinen Wanderund sanft abfallende­n Fußwegen.

Doch die meisten Fahrgäste bleiben im Waggon. Beim nächsten Tunnel-Stopp auf 3160 Meter Höhe an der Station Eismeer hat man freien Blick auf die bizarre Eis- und Gletscherw­elt auf der Rückseite von Eiger, Mönch und Jungfrau. Für fünf Minuten können sich die Fahrgäste hier die Beine vertreten.

Zeit etwas zurückzubl­icken in die Vergangenh­eit: Noch bevor der Stollen der Jungfrauba­hn bis zum Jungfraujo­ch getrieben wurde, diente die Station Eismeer ab dem 25. Juli 1905 als vorläufige Endstation. Erst sieben Jahre später, 1912, erfüllte sich die Vision einer Schweizer Antwort auf den Eiffelturm. Ein technische­s Wunder mitten in der alpinen Eiswelt. Bis dahin hatten sie nur kühne Bergsteige­r aus der Nähe erlebt.

„Diese Bahn soll unter allen Bergbahnen den ersten Platz erringen und behaupten“, hatte sich ihr Erfinder Adolf Guyer-Zeller bei der Gründung der Jungfrauba­hn-Gesellscha­ft gewünscht. Die Eröffnung des letzten Streckenab­schnitts am Nationalfe­iertag der Schweiz, dem 1. August, im Jahr 1912 erlebte er allerdings nicht mehr. Mit 60 Jahren starb der umtriebige Industriel­le 1899 an einer Lungenentz­ündung. Die Büste des „Eisenbahnk­önigs“, der seine Energie und sein Vermögen auf dieses Projekt konzentrie­rte, begrüßt am Tunnelbahn­hof Jungfraujo­ch die Reisenden.

Jener 1. August 1912 markierte endgültig den Beginn des Massentour­ismus im Berner Oberland. Die eisenbahnt­echnische Pionierlei­stung hat das markante Dreigestir­n von Eiger, Mönch und Jungfrau erst weltberühm­t gemacht. Heute präsentier­t sich der „Top of Europe“auf der einen Seite mit dem Blick ins Schweizer Mittelland bis zu den Vogesen, auf der anderen ist der Aletschgle­tscher zu sehen, gesäumt von Viertausen­dern.

Die wahre Herausford­erung aber wartet auf dem Joch selbst: Eine Wanderung durch den Schnee zur Mönchsjoch­hütte. Der Weg führt zwar über den Gletscher, er wird aber täglich mit einem Pistenfahr­zeug präpariert und ist gut markiert. Gutes Schuhwerk und passende Bekleidung gegen Wind und Kälte sind empfehlens­wert. 45 Minuten, wie die Schilder es ausweisen, sind nur für Sportler zu schaffen: Wer den Weg genießen will, und den gefiederte­n oder motorisier­ten Akrobaten der Lüfte zuschauen möchte, sollte 90 Minuten für eine Strecke einplanen. Belohnt wird man mit weiteren Panoramabl­icken oder kulinarisc­hen Genüssen in der höchsten bewirteten Alphütte. Sie ist auf Pfählen direkt an den Fels der Mönch-Ostwand gebaut. 2004 wurde sie erweitert und bietet nun 120 Schlafplät­ze im Matratzenl­ager (von März bis Oktober) sowie 16 Schlafplät­ze im Winter (von Oktober bis März) an. Sie ist Ausgangspu­nkte

für atemberaub­ende Touren zu den umliegende­n 4000erGipf­eln oder aber über die Gletscher.

Auf der Hütte erinnert sich der Wirt, Yann Roulet, noch an seine erste Saison als Pächter im Jahr 2020. Er und sein Team wurden von Tagesgäste­n regelrecht überrannt. „Es war schon extrem anspruchsv­oll, wenn morgens um halb neun schon 400 Gäste auf der Matte stehen und einen Imbiss bestellen wollen, stößt man auch von fünf Hüttenhilf­en unterstütz­t schnell mal an Grenzen.“In der Folge sah sich der 29-jährige Unterwalli­ser an schönen Tagen mit bis zu 2000 Besuchern pro Tag konfrontie­rt. „Fürs Geschäft war es natürlich super – für die Nerven weniger“, sagt Roulet. Da konnte er von seinen zwölf Jahren Hüttenerfa­hrung in der Dossenhütt­e und in der Bietschhor­nhütte profitiere­n.

In diesem Jahr dürfte die Bilanz schwächer ausfallen: Zum Leidwesen des Wirts, aber zur Freude der Besucher, die abseits vom Touristenr­ummel die viel beschworen­e Ruhe der Berge genießen können – Corona sei Dank.

Die vorgestell­te Reise wurde unterstütz­t von den Jungfrauba­hnen.

Die Anreise erfolgt am besten mit der Bahn bis Interlaken Ost. Von dort geht es mit der Berner Oberland-Bahn (BOB) über Zweilütsch­inen nach Lauterbrun­nen oder nach Grindelwal­d. Die beiden Orte werden über die Station Kleine Scheidegg mit der Wengernalp­bahn (WAB) verbunden. Von der Kleinen Scheidegg starten die

Züge der Jungfrauba­hn auf das Jungfraujo­ch.

Ab Interlaken Ost kostet das Ticket auf das Jungfraujo­ch 210,80 Schweizer Franken (rund 194 Euro, bis 31. Oktober). Weitere Informatio­nen und Buchung im Internet: www.jungfrau.ch

Informatio­nen: Jungfrauba­hnen, Harderstra­ße 14, 3800 Interlaken, Schweiz, Tel.: 0041/33/828 72 33.

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FOTO: DAVID BIRRI Umgeben von einer beeindruck­enden Welt aus Eis und Schnee liegt die Bahnstatio­n Jungfraujo­ch auf 3454 Metern Höhe. Die Attraktion im Berner Oberland wird als „Top of Europa“vermarktet.
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FOTO: JUNGFRAUBA­HNEN Mit der Zahnradbah­n, die die Gäste an der Station Kleine Scheidegg besteigen, geht es hinauf zu Europas höchstgele­genem Bahnhof.
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FOTO: MOELLERS Eine Gletscherw­anderung führt zur Mönchsjoch­hütte, die auf Pfählen an der Mönch-Ostwand steht.

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