Das Tempo macht’s
Schon nach kurzer Amtszeit des Trainers zelebrieren die Münchner Fußball à la Nagelsmann
- Da hatte es aber einer eilig. Julian Nagelsmann war schnell wieder aus der Kabine gekommen, setzte sich weit vor Anpfiff der zweiten Halbzeit des ChampionsLeague-Spiels gegen Dynamo Kiew wieder auf seinen Sitz der Trainerbank. Nanu? Hatte der Chefcoach des FC Bayern nichts zu besprechen angesichts der souveränen 2:0-Pausenführung? Oder – wie das einige Trainer gerne machen – schwieg er demonstrativ, um die Spieler noch mehr anzustacheln? Weder noch!
Fünf Analyseszenen zeigte der 34-Jährige auf einem Video-Screen, wie er später verriet, und befand: „Das ist eigentlich relativ viel. Mehr als sonst, meistens zwischen drei und fünf.“Bestens gelaunt witzelte Nagelsmann gegenüber den Reportern: „Aber Sie kennen mich ja jetzt ein bisschen: Ich rede relativ schnell. Wahrscheinlich habe ich sehr schnell gesprochen in der Pause.“Und weil der gebürtige Landsberger nicht nur schnell, sondern auch viel redet, sprudelte es nur so aus ihm heraus: „Der große Unterschied zu sonst war: Ich musste nicht Pipi in den 15 Minuten. Deswegen konnte ich die handgestoppten 35 Sekunden, die ich sonst brauche, schneller wieder raus.“Der Mann analysiert sogar seine eigenen Halbzeitaktivitäten. Und hat Sinn für Humor.
Doch tatsächlich war Nagelsmann mitunter in der ersten Hälfte nicht nur zum Lachen zumute, er bemängelte an der Seitenlinie wortund gestenreich das zunächst etwas träge Flügelspiel seiner Mannschaft. Die Verbesserung war zu erkennen, am Ende stand ein starkes 5:0 gegen den ukrainischen Double-Sieger, das zweite Ausrufezeichen am zweiten Spieltag der Gruppenphase nach dem 3:0 beim FC Barcelona vor zwei Wochen. Es war der neunte Sieg in Serie seit Mitte August, lediglich Pflichtspiel Nummer 1 der Saison, der Bundesliga-Auftakt bei Borussia Mönchengladbach, endete remis (1:1) – ein Mini-Schönheitsfleck. Auf der Habenseite: ein Titelchen (Supercup) sowie 46:6 Tore. Okay, darunter das 12:0 im DFB-Pokal bei Fünftligist Bremer SV. Aber: Nagelsmann
ist noch ungeschlagen als Bayern-Trainer, ganz anders als in der Vorbereitung im Juli, als er in vier Testspielen keinen einzigen Sieg landen konnte. Gutes Timing. Denn Nagelsmann hat – wie in der Halbzeit gegen Kiew zu erkennen und viel wichtiger: in der raschen, taktischen und spielerischen Weiterentwicklung seiner Mannschaft – keine Zeit zu verlieren. Der neue James-BondFilm lässt grüßen. Ganz generell haben diese Bayern: keine Zeit, überhaupt mal zu verlieren.
Die Ziele lauten: die historische zehnte Meisterschaft in Serie gewinnen und sich wie 2020 die Krone des europäischen Fußballs aufsetzen. „Wir haben den Kader dafür und in Julian Nagelsmann einen Trainer, der uns als Mannschaft und individuell so entwickeln wird, dass wir definitiv wieder alle Titel gewinnen können“, sagte Leon Goretzka in „Sport Bild“. Unter Ex-Coach Hansi
Flick, jetzt Bundestrainer und am Mittwoch Tribünengast, waren es sieben in 19 Monaten. Da kommt was auf die Gegner zu. Auf einen bayerischen „Skyfall“, einen Absturz, darf die Konkurrenz nicht hoffen.
Dafür arbeitet Nagelsmann zu detailversessen, gibt Leitlinien („Ziele definieren unabhängig vom Gegner!“) vor und reißt mit seiner lockeren, kommunikativen Art alle im Verein mit. Als wichtigste taktische Verbesserung bekam der Ex-LeipzigCoach die Konterabsicherung in den Griff, das große Manko der zweiten, nicht mehr ganz so erfolgreichen Flick-Saison. Zum fünften Mal in den letzten sieben Pflichtspielen setzte es kein Gegentor. Torwart Manuel Neuer gefällt das. „Eine Null für den Gegner im Endergebnis sieht einfach besser aus“, sagte Nagelsmann, „aber wir sind uns auch bewusst, und das schließt jeden einzelnen Spieler ein, dass wir noch besser werden können und wollen. Diese Gier zu entwickeln, bedeutet mir sehr viel.“Weil die Gier nach den eigenen Toren (Stichwort Rekordtorjäger Robert Lewandowski, der mit dem goldenen Schuh) sowieso unstillbar ist.
Einzelne Spieler hat er wieder stark gemacht, siehe Abwehrspieler Niklas Süle oder Flügelstürmer Leroy Sané, die jeweils von den Fans mit Sprechchören gefeiert wurden. Es läuft dieser Tage so rund bei den Bayern, dass selbst Flanken zu unrunden Torschüssen werden wie bei Sanés 4:0. „Nee, war keine Absicht“, sagte er, „ich wollte den Ball normal reinflanken. da hatte ich Glück, dass meine Technik nicht so gut war.“Er strahlte.
Kann gut sein, dass die Münchner am 28. Mai 2022 nach dem Champions-League-Finale in St. Petersburg wieder ihre Hände am Henkelpott haben – und Nagelsmann seine Goldfinger.