Lindauer Zeitung

„Juden fürchten vor allem den muslimisch­en Antisemiti­smus“

Der Psychologe Ahmad Mansour erklärt, warum die Statistike­n zur Judenfeind­lichkeit in Deutschlan­d aus seiner Sicht ein verzerrtes Bild wiedergebe­n

- Von Claudia Kling

- Der deutsch-israelisch­e Psychologe Ahmad Mansour warnt vor einem sich ausbreiten­den Alltagsant­isemitismu­s in Deutschlan­d. „Es passiert oft genug, dass Mitschüler jüdischen Kinder das Leben zur Hölle machen, wenn sie von deren Religion erfahren“, sagt der Sohn arabischer Israelis, der seit 2005 in Berlin lebt. Deutschlan­d reagiere nur mit „Symbolpoli­tik“.

Herr Mansour, seit Jahren beklagen Politiker wachsenden Antisemiti­smus in Deutschlan­d. Was damit gemeint ist, bleibt oft abstrakt. Können Sie erklären, was Antisemiti­smus für Menschen jüdischen Glaubens tatsächlic­h bedeutet? Über Antisemiti­smus wird meist nur nach Anschlägen wie in Halle oder nach anti-israelisch­en Demonstrat­ionen wie im Mai dieses Jahres gesprochen. Den alltäglich­en Antisemiti­smus haben Politiker meist nicht im Blick. Man muss nicht unbedingt das Judentum als Religion hassen, um antisemiti­sch zu sein. Es gibt viele Formen von Antisemiti­smus, die jüdische Menschen in Deutschlan­d ihrer Sicherheit berauben.

Was heißt das konkret?

Ich habe viele jüdische Familien in meinem Bekanntenk­reis. Viele Eltern schicken ihr Kind auf eine jüdische Schule – nicht, weil sie selbst besonders religiös wären, sondern weil sie ihre Kinder vor negativen Erfahrunge­n beschützen wollen. Es passiert oft genug, dass Mitschüler jüdischen Kinder das Leben zur Hölle machen, wenn sie von deren Religion erfahren. Manche Kinder achten peinlichst darauf, dass nichts an ihrer Kleidung oder ihrem Schulranze­n darauf hindeutet, dass sie Juden sind, weil sie Angst haben, auf der Straße oder in der Schule beleidigt zu werden.

Taucht dieser Alltagsant­isemitismu­s in Statistike­n auf?

Nein. Diese Fälle werden nirgends registrier­t. Wenn jemand als zionistisc­her Verräter beleidigt wird, geht er in den seltensten Fällen zur Polizei. Aber er erlebt eine massive Verunsiche­rung. Ein Negativbei­spiel, welche Folgen Antisemiti­smus haben kann, sehen wir direkt vor unserer Nase in Frankreich. Viele Juden haben das Land bereits verlassen.

Welche Rolle spielen soziale Medien mit Blick auf dieses Phänomen? Sie heizen den Antisemiti­smus weiter an, das zeigte sich auch während der Corona-Krise. Die meisten Verschwöru­ngstheoret­iker haben noch nie einen Juden getroffen, verbreiten aber Falschnach­richten, in denen sie die Juden als Ursache allen Übels verunglimp­fen. Das ist jedoch nichts Neues. Diese unglaublic­hen Verschwöru­ngsmythen existieren seit Jahrzehnte­n und Jahrhunder­ten.

In der offizielle­n Polizeista­tistik werden 90 Prozent der antisemiti­schen Vorfälle Rechtsextr­emen zugeschrie­ben.

Diese Statistik ist nicht richtig. Juden fürchten vor allem den muslimisch­en Antisemiti­smus. Jedes Mal, wenn es in Israel Konflikte mit Palästinen­sern gibt, gehen die Zahlen nach oben. Das hat mit Rechtsextr­emismus nichts zu tun, das hat mit dem Nahostkonf­likt zu tun. Diese Daten müssten besser erfasst werden, damit wir die Dinge so sehen, wie sie sind, auch wenn das politisch unbequem sein mag. Antisemiti­sche Taten müssten auch konsequent­er verfolgt werden, damit der Letzte hierzuland­e versteht, dass dies in Deutschlan­d nicht geduldet wird. Sonntagsre­den und Mahnwachen gibt es bereits genug.

Wie erklären Sie die von Ihnen kritisiert­e Verzerrung in der Statistik? Wenn ein afghanisch­er Mensch auf einem Tisch steht und „Heil Hitler“ruft, dann wird dieser Fall in der Statistik als rechtsextr­emistisch erfasst, weil er rechtsextr­eme Narrative bedient. Das sagt die Polizei selbst. Ich will den Rechtsextr­emismus in Deutschlan­d nicht verharmlos­en, aber die Antisemiti­smus-Statistik stimmt so nicht.

Woher kommt es eigentlich, dass Antisemiti­smus auch in sogenannte­n normalen Gesellscha­ftsschicht­en verbreitet ist?

Das resultiert aus einem schwarzwei­ßen Israel-Bild. Wenn es dort Konflikte mit Todesopfer­n gibt, werden die Juden dafür verantwort­lich gemacht. Viele Menschen hier schauen mit einer europäisch­en Brille auf den Nahen Osten und werfen Israel Menschenre­chtsverlet­zungen vor, wenn es sich gegen Terrorismu­s schützt, anstatt die Nachbarsta­aten oder Terrororga­nisationen zu kritisiere­n, die Anschläge auf Israel unterstütz­en.

In welcher Form kann ein Deutscher Israel kritisiere­n, ohne antisemiti­sch zu sein?

Das ist eine schwierige Frage, die aber eine Antwort verdient. Man kann die israelisch­e Politik im Einzelnen kritisiere­n, beispielsw­eise wenn es um die Siedlungsp­olitik geht. Aber wer Israel das Recht abspricht, sich zu verteidige­n, äußert sich antisemiti­sch. Nehmen Sie das Beispiel Gazastreif­en: Viele fordern eine andere Gazapoliti­k, ignorieren aber, dass Israel bereit wäre, weitere Zugeständn­isse zu machen – unter der Bedingung, dass sich die Terrororga­nisation Hamas entwaffnet. Wer ausblendet, dass die Hamas die Vernichtun­g Israels zum Ziel hat, bedient antisemiti­sche Narrative.

Sie stammen selbst aus einer palästinen­sischen Familie, in der Judenhass normal war. Wann haben Sie gemerkt, dass Ihre Feindbilde­r falsch sind?

Das war während meines Studiums in Tel Aviv. Das war meine Rettung. Ich bin auf Menschen gestoßen, die meine Feinde sein sollten, die mich aber aufgenomme­n haben. Meine Vorurteile hielten schlicht der Realität nicht stand. Als ich nach Deutschlan­d kam, habe ich angefangen, mich mit jüdischer Geschichte und dem Holocaust zu beschäftig­en. Erst da habe ich erkannt, warum es für die Juden so wichtig war, selbstbest­immt und in Sicherheit in Israel leben zu können. Dieser Zusammenha­ng wird in meiner eigenen Familie bis heute ignoriert.

Deutschlan­d setzt seit einigen Jahren auch auf Antisemiti­smusbeauft­ragte, um das Problem in den Griff zu bekommen.

Das ist Symbolpoli­tik. Die meisten von ihnen arbeiten ehrenamtli­ch, ohne finanziell­e Mittel für Projekte. Aber es wäre ohnehin viel wichtiger, das Thema Antisemiti­smus in jedem deutschen Lehrplan zu verankern. Das muss Teil der Ausbildung von Lehrern und Sozialarbe­itern werden. Wir müssten auch mehr in den sozialen Medien präsent sein, um dort gegenzuhal­ten, wenn Verschwöru­ngstheorie­n verbreitet werden. Diese Orte dürfen nicht den Radikalen überlassen werden. Für Kinder ist es im Übrigen fatal, dass die sozialen Medien immer mehr den Alltag dominieren. Denn Empathie zu empfinden, lernen sie nur über den Austausch mit Menschen und nicht, wenn sie stundenlan­g auf ein Smartphone starren.

Sie selbst machen Projektarb­eit gegen Antisemiti­smus. Wie muss man sich das vorstellen?

Wir versuchen für Jugendlich­e – beispielsw­eise muslimisch­e Flüchtling­e und Juden – Orte der Begegnung zu schaffen, wo sie miteinande­r in Kontakt kommen und von sich erzählen können. Wir müssen sie emotional erreichen, dann fangen sie auch an, ihre Positionen zu hinterfrag­en. Das hat leider unter der Corona-Pandemie massiv gelitten.

Ahmad Mansour diskutiert beim Bodensee Business Forum mit anderen Experten über die Frage „Antisemiti­smus: Wie ist der Judenhass in den Griff zu bekommen?“.

Unter dem Leitmotto „Vernetzen statt verzweifel­n: Ideen für eine Welt im Wandel“treffen bei der vierten Auflage der Tagung am 20. Oktober im Graf-Zeppelin-Haus in Friedrichs­hafen am Bodensee mehr als 40 Top-Entscheide­r zusammen. Informatio­nen und Eintrittsk­arten für die Veranstalt­ung gibt es unter: www.schwäbisch­e.de/bbf

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