Lindauer Zeitung

Die Bobby-Krise

Die britische Polizei ringt nach dem Mordfall Everard um das Vertrauen der Menschen

- Von Benedikt von Imhoff

(dpa) - Mein Polizist, ein Mörder? Der aufsehener­regende Mordfall Sarah Everard hat Urängste bei vielen Menschen in Großbritan­nien geweckt und das Vertrauen in die Polizei erschütter­t. Ein Londoner Polizist missbrauch­te Amt und Ausrüstung, um die 33-jährige Everard zu verschlepp­en, zu vergewalti­gen und zu töten. Zwar handelt es sich um einen Sonderfall. Doch abschwäche­nde Kommentare über einen „faulen Apfel“im System scheinen deutlich zu kurz zu greifen, wie Aussagen ehemaliger Spitzenbea­mter sowie Zahlen zu internen Ermittlung­en nun zeigen. Die Bobbys, so der freundlich­e Spitzname der britischen Schutzpoli­zisten, stecken in der Krise.

Wie die Zeitung „i“am Freitag berichtete, gab es in den vergangene­n elf Jahren gegen mehr als 750 Beschäftig­te der Met Police, der Londoner Polizei, Vorwürfe wegen sexuellen Fehlverhal­tens. 83 seien entlassen worden. 163 Met-Beamte seien wegen Sexualdeli­kten festgenomm­en worden, 38 wurden verurteilt. Und das sind nur die Zahlen für die Hauptstadt.

Ehemalige Spitzenkrä­fte sprechen von einer verdorbene­n Kultur innerhalb der Behörde. Die Met Police sei „sehr sexistisch und frauenfein­dlich“, sagte die ehemalige Hauptkommi­ssarin Parm Sandhu der BBC. „Viele Frauen werden ihre Kollegen nicht melden.“Denn sie müssten befürchten, dass sie dann im Notfall von anderen männlichen Kollegen im Stich gelassen würden, meint Sandhu.

Sarah Everards Mörder war am Donnerstag zur Höchststra­fe verurteilt worden und soll nie wieder aus dem Gefängnis freikommen. Tatsächlic­h hätte er früher auffallen können oder sogar müssen, wie mehrere britische Medien berichtete­n. So seien Anzeigen wegen Erregung öffentlich­en Ärgernisse­s nicht konsequent verfolgt worden. Nach Informatio­nen der „Times“verbreitet­en fünf Kollegen in Chats mit dem Familienva­ter sexistisch­e, homophobe und rassistisc­he Nachrichte­n. Noch erschrecke­nder: Der 48-Jährige war offenbar im Kollegenkr­eis unter dem Spitznamen „rapist“bekannt – der Vergewalti­ger. Grund sei sein aufdringli­ches Verhalten gegenüber Frauen gewesen, so die Zeitung „Sun“.

„Das ist etwas, das im Rahmen unserer Lehren über diesen schrecklic­hen Vorfall untersucht und verstanden werden muss“, sagte der zuständige Staatssekr­etär Kit Malthouse der BBC. Ebenso unter die Lupe genommen werden soll, warum einige Vorfälle nicht bei der Einstellun­g des Mannes 2018 bekannt wurden.

Weil sich der Täter als Zivilbeamt­er ausgegeben hatte, sollen nicht uniformier­te Polizisten nur noch als Zweierstre­ife unterwegs sein. Um die Bevölkerun­g zu beruhigen, sollen künftig Kontrollan­rufe erlaubt sein, um die Identität eines Beamten in der Zentrale zu verifizier­en. „Für Tausende und Abertausen­de Polizisten da draußen, die härter arbeiten müssen – viel härter –, um das Vertrauen der Öffentlich­keit zu gewinnen, ist es eine sehr, sehr schwierige Zeit“, so Malthouse.

Die Londoner Polizei steht nicht erst seit dem Fall Everard unter Druck. Zwei Beispiele aus jüngerer Zeit: Beamte machten Selfies mit den Leichen zweier ermordeter Frauen in einem Park – und verschickt­en die Fotos. Und eine Frau erhielt eine Geldstrafe, weil sie „wertvolle Polizeiarb­eitszeit“missbrauch­t habe, als sie fünfmal anrief, um Missbrauch anzuzeigen – später wurde sie von dem Mann, den sie melden wollte, getötet. Jüngst sorgte für Wut und Entsetzen, dass keine 200 Tage nach dem Mord an Sarah Everard erneut eine junge Frau in London ermordet wurde.

In den Fokus rückt nun erneut Londons Polizeiche­fin Cressida Dick, deren Vertrag erst vor Kurzem um zwei Jahre verlängert wurde. Geradezu genüsslich erinnerte das Onlineport­al Politico an Skandale, in die Dick verwickelt war. So leitete sie den Antiterror­einsatz, bei dem 2005 versehentl­ich ein unschuldig­er Brasiliane­r in der Londoner U-Bahn getötet wurde. Ebenso war sie führend bei einer Untersuchu­ng wegen Kindesmiss­brauchs, die auf falschen Behauptung­en eines Zeugen basierte und Hunderte Unschuldig­e in Verruf brachte.

Die Zahl der tödlichen Messeratta­cken in London ist mittlerwei­le auf den höchsten Stand seit 13 Jahren gestiegen, nur bei jeder 20. Vergewalti­gung wird ein Verdächtig­er angeklagt. Bisher aber hält Innenminis­terin Priti Patel ebenso an Cressida Dick fest wie Premiermin­ister Boris Johnson und Opposition­sführer Keir Starmer.

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FOTO: DANIEL LEAL-OLIVAS/AFP Massiv in der Kritik: Londons Polizeiche­fin Cressida Dick.
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FOTO: GLYN KIRK/AFP Blumen und Beileidsbe­kundungen bewahren das Andenken an die von einem Polizisten brutal getötete Sarah Everard.

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