Immer mehr Steinböcke werden blind
Sorgen um die hierzulande größte Population der Kletterkünstler im südlichen Oberallgäu
- Die mächtigen Hörner des Steinbocks samt der enormen Trittsicherheit und Kletterkünste der Tiere faszinieren Naturfreunde immer wieder, wenn sie sie im Hochgebirge sehen. Ihre Popularität machte ihnen aber auch schon Probleme. Menschen rotteten das Steinwild aus Trophäensucht und wegen angeblicher „Heilmittel“in Deutschland vollständig aus. 1936 wurde es wieder angesiedelt. Seither haben sie sich stetig vermehrt – besonders im Oberallgäu. Doch seit einigen Jahren droht ihnen eine andere Gefahr – mehr und mehr werden blind.
„Ich bin immer wieder fasziniert davon, wie locker und leicht sich das Steinwild im steilsten Gelände bewegt“, erzählt die Oberallgäuer Wildökologin Agnes Hussek davon, wenn sie mit dem Fernglas die Tiere im Hochgebirge rund um Oberstdorf beobachtet. Doch immer öfter sieht sie in letzter Zeit Steinböcke und Geißen, die an der Gamsblindheit leiden, eine hochansteckende Augenkrankheit, die neben Gämsen auch Schafe, Ziegen und eben Steinwild befällt. Dabei werden die Bakterien, die die Krankheit auslösen, von Fliegen übertragen. Die Augen verkleben so stark, dass das Tier nichts mehr sieht. Im schlimmsten Fall, sagt Hussek, sterben die Tiere daran. Sie finden keine Nahrung mehr oder stürzen ab, weil sie sich nicht mehr orientieren können. Die Tiroler Jägerschaft schätzt die Sterberate bei Gämsen auf ein Drittel der erkrankten Tiere. Aber, sagt die Wildökologin, bei vielen Tieren heilt die Augenerkrankung aus.
Wichtig sei es, die Tiere in Ruhe zu lassen, appelliert sie an Wanderer oder Schneeschuhgänger. Normalerweise flieht Steinwild sofort vor Menschen. Doch erkrankte Tiere, würden wegen ihrer verklebten Augen länger liegen bleiben und dann erst in Panik davonspringen – womöglich blindlings in den Tod. Vergangenen Winter seien zwei Steinböcke so ums Leben gekommen. Deshalb sollten Menschen einen großen Bogen um offensichtlich befallenes Steinwild machen.
Begegnen könnten Wanderer im Oberallgäu dem Steinbock vor allem an zwei Stellen: in einer Höhe von 1800 Meter in den Bergen zwischen Oberstdorf und dem Kleinwalsertal oder auf östlicher Seite an der Mädelegabel/Krottenkopf Richtung Tirol. Die beiden zusammen bilden die derzeit größte Kolonie in Deutschland. In diesem Sommer wurden rund 200 Tiere gezählt. Die Zahlen seien „aber mit Vorsicht zu genießen“,
Steinwild: Der männliche Steinbock kann bis zu 100 Kilogramm schwer werden, die weiblichen Tiere (Geißen) sind nur halb so schwer. Der harte Schalenrand und der weiche Ballen am Fuß ermöglichen dem Steinwild den sicheren Tritt im Steilgelände. Schon die Kitze besitzen diese Fertigkeit.
Vorkommen: Rund 45 000 Tiere leben im Alpenraum, die meisten davon in der Schweiz und Italien. Sie ziehen im Winter nicht talwärts, sondern bleiben im Hochgebirge. sagt Hussek. Denn das Steinwild kenne keine Grenzen und pendle ständig zwischen Allgäu und Österreich hin und her. Jede Seite zähle aber zunächst für sich.
Gemeinsame Zählungen gibt es beispielsweise für den Bereich Oberallgäu/Kleinwalsertal, die die Zunahme des Steinwilds belegen: Im Jahr 2000 wurden dort 50 Tiere gezählt, 2017 waren es schon über 200. Auf der Seite hin zu Tirol sind es derzeit sogar 470. Dabei war die Tierart Anfang des 19. Jahrhunderts in Deutschland und Österreich bereits ausgerottet. Die Hörner waren eine begehrte Trophäe, das Herzkreuz (Verknöcherung am Herzen) wurde als Glücksbringer gehandelt und andere Körperteile als Medizin. Nur 100 Tiere gab es noch am Gran Paradiso in Italien, die dann geschützt wurden. Von ihnen aus wurden die Tiere dann wieder im Alpenraum angesiedelt. In Deutschland werden sie seither nicht bejagt.
Ein Tipp von Agnes Hussek: Wer das Steinwild erleben will, aber nicht weiß wo, kann sich beim Zentrum Naturerlebnis Alpin in Obermaiselstein für eine Tour anmelden.