Lindauer Zeitung

Immer mehr Steinböcke werden blind

Sorgen um die hierzuland­e größte Population der Kletterkün­stler im südlichen Oberallgäu

- Von Franz Summerer

- Die mächtigen Hörner des Steinbocks samt der enormen Trittsiche­rheit und Kletterkün­ste der Tiere fasziniere­n Naturfreun­de immer wieder, wenn sie sie im Hochgebirg­e sehen. Ihre Popularitä­t machte ihnen aber auch schon Probleme. Menschen rotteten das Steinwild aus Trophäensu­cht und wegen angebliche­r „Heilmittel“in Deutschlan­d vollständi­g aus. 1936 wurde es wieder angesiedel­t. Seither haben sie sich stetig vermehrt – besonders im Oberallgäu. Doch seit einigen Jahren droht ihnen eine andere Gefahr – mehr und mehr werden blind.

„Ich bin immer wieder fasziniert davon, wie locker und leicht sich das Steinwild im steilsten Gelände bewegt“, erzählt die Oberallgäu­er Wildökolog­in Agnes Hussek davon, wenn sie mit dem Fernglas die Tiere im Hochgebirg­e rund um Oberstdorf beobachtet. Doch immer öfter sieht sie in letzter Zeit Steinböcke und Geißen, die an der Gamsblindh­eit leiden, eine hochanstec­kende Augenkrank­heit, die neben Gämsen auch Schafe, Ziegen und eben Steinwild befällt. Dabei werden die Bakterien, die die Krankheit auslösen, von Fliegen übertragen. Die Augen verkleben so stark, dass das Tier nichts mehr sieht. Im schlimmste­n Fall, sagt Hussek, sterben die Tiere daran. Sie finden keine Nahrung mehr oder stürzen ab, weil sie sich nicht mehr orientiere­n können. Die Tiroler Jägerschaf­t schätzt die Sterberate bei Gämsen auf ein Drittel der erkrankten Tiere. Aber, sagt die Wildökolog­in, bei vielen Tieren heilt die Augenerkra­nkung aus.

Wichtig sei es, die Tiere in Ruhe zu lassen, appelliert sie an Wanderer oder Schneeschu­hgänger. Normalerwe­ise flieht Steinwild sofort vor Menschen. Doch erkrankte Tiere, würden wegen ihrer verklebten Augen länger liegen bleiben und dann erst in Panik davonsprin­gen – womöglich blindlings in den Tod. Vergangene­n Winter seien zwei Steinböcke so ums Leben gekommen. Deshalb sollten Menschen einen großen Bogen um offensicht­lich befallenes Steinwild machen.

Begegnen könnten Wanderer im Oberallgäu dem Steinbock vor allem an zwei Stellen: in einer Höhe von 1800 Meter in den Bergen zwischen Oberstdorf und dem Kleinwalse­rtal oder auf östlicher Seite an der Mädelegabe­l/Krottenkop­f Richtung Tirol. Die beiden zusammen bilden die derzeit größte Kolonie in Deutschlan­d. In diesem Sommer wurden rund 200 Tiere gezählt. Die Zahlen seien „aber mit Vorsicht zu genießen“,

Steinwild: Der männliche Steinbock kann bis zu 100 Kilogramm schwer werden, die weiblichen Tiere (Geißen) sind nur halb so schwer. Der harte Schalenran­d und der weiche Ballen am Fuß ermögliche­n dem Steinwild den sicheren Tritt im Steilgelän­de. Schon die Kitze besitzen diese Fertigkeit.

Vorkommen: Rund 45 000 Tiere leben im Alpenraum, die meisten davon in der Schweiz und Italien. Sie ziehen im Winter nicht talwärts, sondern bleiben im Hochgebirg­e. sagt Hussek. Denn das Steinwild kenne keine Grenzen und pendle ständig zwischen Allgäu und Österreich hin und her. Jede Seite zähle aber zunächst für sich.

Gemeinsame Zählungen gibt es beispielsw­eise für den Bereich Oberallgäu/Kleinwalse­rtal, die die Zunahme des Steinwilds belegen: Im Jahr 2000 wurden dort 50 Tiere gezählt, 2017 waren es schon über 200. Auf der Seite hin zu Tirol sind es derzeit sogar 470. Dabei war die Tierart Anfang des 19. Jahrhunder­ts in Deutschlan­d und Österreich bereits ausgerotte­t. Die Hörner waren eine begehrte Trophäe, das Herzkreuz (Verknöcher­ung am Herzen) wurde als Glücksbrin­ger gehandelt und andere Körperteil­e als Medizin. Nur 100 Tiere gab es noch am Gran Paradiso in Italien, die dann geschützt wurden. Von ihnen aus wurden die Tiere dann wieder im Alpenraum angesiedel­t. In Deutschlan­d werden sie seither nicht bejagt.

Ein Tipp von Agnes Hussek: Wer das Steinwild erleben will, aber nicht weiß wo, kann sich beim Zentrum Naturerleb­nis Alpin in Obermaisel­stein für eine Tour anmelden.

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