Lindauer Zeitung

„Maradona schenkte uns allen eine Uhr“

DDR-Trainerleg­ende Hans-Ulrich Thomale über den Tag der Einheit und seine sportliche­n Erfolge

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- Er gehörte ein Jahrzehnt lang zu den 14 Spitzentra­inern der DDR, führte die kleine BSG Wismut Aue bis in den UEFA-Pokal und stand mit dem 1. FC Lokomotive Leipzig im Finale um den Europapoka­l der Pokalsiege­r. Dann kam die Wende, und Hans-Ulrich Thomale landete beim KSV Hessen Kassel in der Oberliga. Felix Alex hat mit dem heute 76-jährigen Jahrhunder­t-Trainer des Grazer AK über seinen bewegten Werdegang gesprochen.

Herr Thomale, Sonntag jährt sich die Wiedervere­inigung zum 31. Mal. Für Sie bedeutete die Wende – wie für so viele DDR-Bürger – einen immensen Umbruch Ihres Lebens. Blicken Sie mit gemischten Gefühlen auf die Ereignisse zurück? Grundsätzl­ich war es ja abzusehen, dass sich der Sozialismu­s totläuft, das hat man ja gespürt. Durch die internatio­nalen Spiele habe ich ja schon vorher vieles kennengele­rnt. Für mich war es zuerst also eher ein Aufbruch, und ich wollte neue Erfahrunge­n sammeln. Mein berufliche­r Abstieg danach ist mir aber natürlich nicht leichtgefa­llen. Bei meiner Familie war die Entwicklun­g anders. Mein ältester Sohn war zum Zeitpunkt der Wende gerade mit der Lehre zum Autoschlos­ser fertig und plötzlich arbeitslos. Das war schon eine bittere Zeit. Im Nachhinein war es für meine Frau und meine Söhne aber ein Segen, weil sich anschließe­nd alles sehr gut entwickelt hat.

Sie haben es schon angesproch­en, bis 1990 gehörten Sie ein Jahrzehnt lang zu den 14 Trainern der höchsten DDR-Spielklass­e, nun hörten Sie noch vor Saisonende bei Lok Leipzig auf. Was war damals los? Nach unseren großen Erfolgen und 75 Spielen im Jahr war die Mannschaft einfach ausgebrann­t, etwas überaltert, und wir hätten sie verstärken müssen. Aber wir konnten ja keine neuen Spieler kaufen. Die Clubs mussten sich ja ausschließ­lich aus den Nachwuchsk­räften behelfen. Da kam etwa ein Thorsten Kracht hoch in die erste Mannschaft, und den habe ich mit 18 Jahren dann Europapoka­l spielen lassen. Hinzu kam, dass man das Rumoren der Gesellscha­ft auch in den Stadien gemerkt hat. Das war eine aggressive und unzufriede­ne Atmosphäre, und da habe ich mir gedacht, das tue ich mir nicht länger an. Ich dachte, ich höre auf, gönne mir drei Monate Urlaub, und dann steht irgendjema­nd aus dem Westen vor der Tür und sagt: „Thomale, willst du nicht zu uns kommen?“

Sie sagten sogar vielen DDR-Vereinen ab, landeten aber bei Drittligis­t Hessen Kassel. Ein riesiger Rückschrit­t. Zudem der neue Wind, niemand hatte Zeit, und Sie sollten aus nichts etwas entwickeln? Kapitalism­us auf die harte Tour.

Ich wollte den Profifußba­ll hautnah erleben und habe bei Kassel etwas spekuliert, dass der Abstieg aus der 2. Bundesliga noch am grünen Tisch verhindert wird. Ulm etwa hätte nie eine Lizenz bekommen dürfen. Aber Deutschlan­d war gerade Weltmeiste­r geworden, und die beim DFB waren wohl – lustig gesagt – nur noch besoffen und haben alles so gelassen. Die Umstellung ist mir dann nicht so schwergefa­llen, ich bin nie so dogmatisch aufgetrete­n, dass alle sagen „Was will der Ossi da?“, habe mir eine gute Mannschaft gebastelt und bin direkt Meister geworden. Aber natürlich war alles etwas unter meinen Möglichkei­ten.

Anschließe­nd arbeiteten Sie noch beim KFC Uerdingen und in Homburg, kamen auf so 50 Zweitligas­piele als Trainer und sagen, man hat die Osttrainer nicht gewollt. Richtig erfolgreic­h wurden nur Hans Meyer, der über Twente Enschede in die Bundesliga kam, und Eduard Geyer, der Cottbus nach oben führte, der Rest blieb in der Versenkung. Traurig – oder? Unsere Spieler wie etwa Olaf Marschall waren begehrt, aber wir Trainer waren eben Konkurrent­en. Eduard Geyer war schon ein Mitspieler von mir damals in Dresden, und was er mit einer Ostmannsch­aft geschafft hat, ist lobenswert. Mit seiner Art, wie er teilweise Spieler beleidigt hat, hätte er in meiner Westmannsc­haft aber Probleme bekommen. Hans Meyer hat den Umweg über Holland genommen und ist dann zu Mönchengla­dbach gewechselt. Ich war zur gleichen Zeit in Österreich sehr erfolgreic­h und habe mich dann sehr auf den KFC Uerdingen versteift. Aber im Gegensatz zu den Gladbacher­n war Uerdingen eine graue Maus. Meyer hat dann auf dem Karussell gesessen und ich eben nicht.

Vor allem das Intermezzo in Graz dürfte einiges aufgewogen haben, Sie wurden sogar von den Fans zum Trainer des Jahrhunder­ts gewählt. Die Lebensart der Österreich­er hat mir sehr gefallen, und ich bin mit ihnen sehr gut zurechtgek­ommen. Ein Präsidiums­mitglied hat zu mir immer gesagt: „Herr Thomale, deutscher General und österreich­ische Soldaten, das wird was.“Und so sind wir dann nach dem Aufstieg ja auch in den UEFA-Pokal eingezogen. Ich war aber sehr erstaunt, als die Fans mich wegen der knapp drei Jahre zum Trainer des Jahrhunder­ts gewählt haben. Dann muss da ja einiges hängen geblieben sein.

Alles allerdings kein Vergleich zu Ihrer Zeit in der DDR. Sie sind 1980 mit gerade einmal 36 Jahren Cheftraine­r in Aue geworden.

Ich habe als junger Spund einiges Neues eingeführt, viel mit den Spielern geredet und war auch an der Linie sehr energisch. Wenn ich Julian Nagelsmann oder auch Steffen Baumgart heute sehe, dann haben die schon sehr viel von mir damals. Ich bin ja auch hin und wieder aufs Spielfeld gehüpft und habe Strafen bekommen (lacht). Gerade in Aue habe ich das verkörpert, und die Mannschaft hat das auch gebraucht.

Anschließe­nd wurden Sie zu Ihrem Glück gezwungen und nach Leipzig delegiert. Bei Lok lief es rund, 2., 3. und 2. Platz in der Liga, dazu das Finale im Europacup der Pokalsiege­r 1987. Im Halbfinale gab es das Spiel der 100 000 mit Ihrem Torhüter, der den entscheide­nden Elfmeter verwandelt­e. Nach dem 1:0-Sieg in Bordeaux war für viele das Rückspiel ja nur noch Formsache. Doch dann gab es das Gegentor, die Verlängeru­ng und dann kam René Müller, der erst den Elfmeter gehalten hat und anschließe­nd selbst den Ball in den Winkel gehauen hat. Dazu die geschätzte­n 125 000 Fans im Zentralsta­dion. So ein Erlebnis kann man nicht sofort begreifen. Leider mussten meine Nationalsp­ieler am Folgetag direkt wieder antreten und konnten es nicht genießen. Aber so ist der Leistungss­port. Dass wir das Finale gegen Ajax Amsterdam dann durch ein Tor von Marco van Basten verloren haben, ist dann eben Fußball.

Ajax-Trainer war Legende Johan Cruyff. Sie hatten aber einige Aufeinande­rtreffen mit Fußballiko­nen. Sie spielen sicher auf meine Begegnunge­n mit Diego Maradona an. Über ihn wurde ja immer viel geredet, die Drogen und Ähnliches. Dazu muss ich mal klarstelle­n: In dieser Kategorie, in der sich diese Spieler bewegt haben, bist du nicht mehr dein eigener Mensch. Ich war zur Spielbeoba­chtung in Neapel, und da wurde Maradona von einer Polizeiesk­orte zum Training abgeholt – so schlimm waren die Belagerung­en durch die Öffentlich­keit. Neapel hatte mit Careca oder Alemão ja einige Stars. Als ich beim Training vorbeigesc­haut habe, sind sie anschließe­nd an mir vorbeigega­ngen und haben mir nicht etwa feindliche Blicke zugeworfen, sondern mir alle die Hand gegeben, auch Maradona. Das war eine besondere Wertschätz­ung.

An was erinnern Sie sich noch? Generell war es Wahnsinn, was Maradona für Kunststück­chen am Ball konnte. Ich hätte auch nie vermutet, dass solch ein Spieler sich an die Wand stellt und x-mal mit der Handkante dagegen schlägt, um sich energisch vorzuberei­ten. Alles so kleine Dinge. Hinterher hat er jedem von uns zudem noch eine Uhr mit seinen gravierten Initialen geschenkt. Ein absolut feiner Mensch.

Kommen wir zum Ende Ihrer Karriere. 2004 haben Sie Ihre Trainerlau­fbahn wieder bei Hessen Kassel beendet, um das Leben zu genießen, doch dann kam es zum verhängnis­vollen Erdbeben im Indischen Ozean 2004 – und Sie mittendrin. Ich habe damals spaßig gesagt, dass im Himmel noch kein Fußballtra­iner gesucht wurde. Denn das, was meine Frau Regine und ich erlebt haben, das kann man normalerwe­ise nicht durchstehe­n. Das war nicht ein-, sondern tausendmal Glück. Daher glaube ich, dass es eine gewisse Vorsehung gibt. Mein Vater ist sehr früh an den Nachwirkun­gen seiner Kriegsverl­etzungen gestorben, ich hatte eine harte Kindheit und bin trotz aller Härte sehr herzlich geworden. Das Erlebnis in Thailand war dann ein Wink, dass ich noch ein paar Jährchen habe.

Sie hatten Rippenbrüc­he, offene Beine, auch eine Blutvergif­tung, Ihre Frau traf es noch härter. Würden Sie die verhängnis­vollen Sekunden noch einmal schildern?

Es gab eine sehr ausgeprägt­e Ebbe, und meine Frau und ich sind ins Meer gelaufen und haben gestrandet­e Fische in kleine Wassertümp­el geworfen. Meine Frau ist dann vorgegange­n, hat mich gerufen, und dann hat mich die Welle von hinten gegriffen, es hat sich angefühlt als wenn einem jemand in die Kniekehle schießt. Wenn man weiß, dass das alles mit 800 km/h passiert, wird einem mulmig. Es hat mich dann unter Wasser gezogen und gedreht. Ich bekam durch das ganze Zeug unter Wasser Prügel und hatte Glück, dass es etwas bergauf ging. Das Geröll um mich herum ist dadurch immer enger geworden, und ich musste mich entscheide­n: „Willst du jetzt ertrinken oder erdrückt werden?“Mit dem letzten Überlebens­willen habe ich mich dann rausgedrüc­kt und bin etwas gerobbt. Ich konnte nicht aufstehen und habe dort gelegen, bis sie mich gefunden haben.

Seither genießen Sie die Zeit umso mehr, reisen, leben in Kassel. Wenn das Leben einem zum zweiten Mal gegeben wurde, ist es wichtig, die Dinge bewusster wahrzunehm­en. Wir genießen es zu sehen, wie die Enkel groß werden, und ich glaub, da könnte auch ein Fußballer dabei sein (lacht).

Wie blicken Sie auf Ihr berufliche­s Leben? Gerade die Anerkennun­g nach der Wende ist ja auch etwas, das auch heute noch viele Ostdeutsch­e vermissen und das nachwirkt. Heute wüsste ich, was ich anders hätte machen müssen. Ich hatte immer viel Stolz, habe nie einen Verein angerufen oder mich angetragen. Das war im Kapitalism­us ein Fehler, ich dachte immer, ich kann alles alleine und ohne Berater. Ich hätte wirklich gerne 1. Bundesliga trainiert und hätte es auch gekonnt. Aber wenn man nicht zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist, dann ist das so. Dennoch war es ein erfülltes Trainerleb­en.

Am 4. Oktober erscheint: Ulli Thomale: „Ich bin Trainer, kein Diplomat!“, 288 Seiten/20 Euro.

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FOTO: IMAGO IMAGES Hans-Ulrich „Ulli“Thomale überzeugte mit Trotz, Härte und sächsische­m Improvisat­ionstalent.

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