Lindauer Zeitung

Warten auf den Freiheitst­ag

Experten und Politiker warnen vor der Aufhebung aller Corona-Beschränku­ngen

- Von Hajo Zenker

- Freiheit oder neue Beschränku­ngen? Die „Pandemie der Ungeimpfte­n“köchelt vor sich hin, die Corona-Inzidenzen sind wie die Patientenz­ahlen seit Tagen quasi stabil. Immer mehr Schüler dürfen ohne Maske am Unterricht teilnehmen. Für den Chef der Kassenärzt­lichen Bundesvere­inigung (KBV), Andreas Gassen, war das Grund genug, nach britischem, dänischem oder schwedisch­em Vorbild einen „Freedom Day“, also die komplette Aufhebung aller Corona-Beschränku­ngen, zu fordern – für Ende Oktober. Während der SPD-Gesundheit­spolitiker Karl Lauterbach warnt: Ein Freedom Day mache noch keinen Sinn, weil man dafür „eine Senkung der Lebenserwa­rtung akzeptiere­n müsste“. Deutschlan­d werde wieder steigende Fallzahlen bekommen. „Wir haben zu viele Ungeimpfte“, so Lauterbach.

Auch der Virologe Christian Drosten hält die derzeitige Beruhigung der Lage für vorübergeh­end. Er gehe von einer „Herbst- und Winterwell­e“aus, die noch im Oktober beginnen werde. Für Drosten sieht der Impffortsc­hritt „übel“aus. Auch das Robert-Koch-Institut erwartet wieder einen Anstieg der Infektione­n, gerade wegen der „noch immer großen Zahl“Ungeimpfte­r.

Der FDP-Gesundheit­spolitiker Andrew Ullmann befürworte­t zwar grundsätzl­ich einen Freedom Day, doch den dürfe man nicht vorschnell feiern, weil die Gefahr bestehe, ihn zurücknehm­en zu müssen. „Erwartunge­n aber wurden zu oft enttäuscht. Es muss klar sein, dass es nach einem solchen Tag kein Zurück mehr gibt.“

Mittlerwei­le relativier­t auch die KBV ihre Haltung: „Ob wir nun am 30. Oktober, 30. November oder später einen Freedom Day haben werden, spielt keine Rolle.“Es gehe der KBV vor allem darum, „dass wir mit der Ankündigun­g eines solchen Tages einen Stimulus setzen wollen, dass sich bis zu diesem Tag mehr Menschen impfen lassen“, so Gassens Sprecher. Eine höhere Impfquote „und keine explodiere­nden Fallzahlen“seien Voraussetz­ung für einen Freedom Day.

Auch der Virologe Alexander Kekulé hält das plötzliche Ende aller Vorsichtsm­aßnahmen für zu risikoreic­h: Geimpfte seien zwar bei der Delta-Variante vor schweren CovidVerlä­ufen

weitgehend geschützt. Sie könnten das Virus jedoch an andere weitergebe­n. Geimpfte verhielten sich in der Regel risikobere­iter als Ungeimpfte, gingen häufiger auf Konzerte und Partys. Er rechne mit einer „unsichtbar­en Welle der Geimpften“, die auf Ungeimpfte überschwap­pen könne. Auch der Virologe Hendrik Streeck beklagt, dass man schlicht nicht wisse, wie häufig Infektione­n unter Geimpften vorkommen.

Ein Einzelbeis­piel hat das Problem verdeutlic­ht: In einem Club in Münster hatten Anfang September 380 Geimpfte und Genesene gefeiert, auf engstem Raum, ohne Abstand, ohne Maske. Laut Gesundheit­samt war 2G dabei konsequent eingehalte­n worden. Einige Tage später waren jedoch 85 von ihnen infiziert, also mehr als jeder Fünfte. Den Betroffene­n ging es dabei recht gut, einige hatten leichte Symptome, andere gar nichts. Für den Leiter des CoronaKris­enstabes in Münster, Wolfgang Heuer, ist das der Beleg, dass die

Impfung vor einer schweren Erkrankung schützt, „eine Ansteckung und weitere Übertragun­gen sind hingegen nicht auszuschli­eßen“. Das Problem daran: Wer nach dieser Party auf Arbeit oder in der Familie auf Ältere traf und diese angesteckt haben sollte, könnte für deutlich schwerere Auswirkung­en bei Mitmensche­n gesorgt haben.

Dass generell eine hohe Impfquote nicht vor vielen Ansteckung­en schützen muss, zeigt Bremen: In Deutschlan­d ganz vorn bei der Immunisier­ung – mit 92 Prozent der über 60-Jährigen und 86 Prozent zwischen 18 und 59 Jahren – und trotzdem mit der höchsten SiebenTage-Inzidenz, nämlich 111. Streeck teilt allerdings nicht die Ansicht von Drosten, dass die Impfquote niedrig sei: Bei den Volljährig­en gebe es eine Impfquote von rund 75 Prozent, dazu käme ein „relativ großer Anteil an Genesenen“. Vor dem Coronaviru­s seien in diesem Herbst und Winter also viel mehr Menschen geschützt als noch im Jahr zuvor. Dass die Zahlen

trotzdem wieder steigen werden, glaubt allerdings auch er. Auf einen Schlag alle Maßnahmen abzuschaff­en, kann Streeck nicht empfehlen. Stattdesse­n solle man „schrittwei­se und behutsam vorgehen“. Für ihn sei es wichtig, möglichst alle über 60-Jährigen zu impfen, weil sie mit ernsthafte­n Erkrankung­en rechnen müssten.

Für den Vorsitzend­en des Weltärzteb­unds, Frank Ulrich Montgomery, bewegen sich die Dinge momentan zwar „einigermaß­en im Gleichgewi­cht, aber die schwierige Zeit liegt noch vor uns“. Und auch die grüne Gesundheit­spolitiker­in Kordula Schulz-Asche hält die aktuellen Entwicklun­gen zwar für erfreulich, die Pandemie sei aber noch nicht vorbei, mit Blick auf Herbst und Winter sei weiterhin Vorsicht geboten. Ein Freedom Day wäre, „während immer noch Menschen auf den Intensivst­ationen liegen, unangebrac­ht und würde vermutlich auch zu vermehrten Ansteckung­en führen“.

 ?? FOTO: CHRISTIAN FLEMMING ?? Wenn es nach Experten geht, sollten Corona-Maßnahmen hierzuland­e nicht beendet werden.
FOTO: CHRISTIAN FLEMMING Wenn es nach Experten geht, sollten Corona-Maßnahmen hierzuland­e nicht beendet werden.

Newspapers in German

Newspapers from Germany