Lindauer Zeitung

„Im Internet wird Freiheit vernichtet“

Der Linksliber­ale Gerhart Baum wünscht sich ein neues Profil für die FDP – Mehr Fokus auf Bürgerrech­te, Umwelt und Gerechtigk­eit

- Von Igor Steinle

– SPD und FDP in einer Koalition: das gab es unter den Kanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt schon einmal. Der ehemalige FDP-Politiker und bekennende Linksliber­ale Gerhart Baum, der unter Schmidt Innenminis­ter war, sieht durchaus Parallelen zur heutigen Zeit. Eine Ampelkoali­tion böte seiner Partei die Chance, ihr Profil zu erneuern, so der 89-Jährige. Der Liberalism­us müsse wieder ganzheitli­cher gedacht werden, fordert Baum von seinen Parteifreu­nden.

Herr Baum, 52 Jahre ist es her, dass Willy Brandt die erste soziallibe­rale Koalition Deutschlan­ds begründete. Sehen Sie Parallelen zu heute?

Ja, durchaus. Damals wie heute hatten wir historisch­e Aufgaben zu bewältigen. Damals gab es eine doppelte Reformnotw­endigkeit: Die Beendigung des Kalten Krieges durch eine neue Deutschlan­d- und Ostpolitik sowie fundamenta­le Reformen in allen Bereichen der Gesellscha­ft. Wir wollten die Nachkriegs­zeit beenden und die Lebenswirk­lichkeit an den Forderunge­n des Grundgeset­zes messen. Der Leitspruch war „Mehr Demokratie wagen“, das war und ist in abgewandel­ter Form angesichts neuer Herausford­erungen auch heute notwendig.

Inwiefern?

Die Situation ist in ihren Grundzügen durchaus vergleichb­ar mit der heutigen. Wieder geht es um Außenpolit­ik, wieder geht es um innere Reformen. Europa muss sich in einer aus den Fugen geratenen Welt behaupten. Die Rivalität zwischen China und den USA droht Europa zu marginalis­ieren, wenn es sich nicht endlich strukturel­l stärkt. Zudem müssen Wachstumsi­mpulse freigesetz­t werden und Solidaritä­t mit den Schwächere­n gelebt werden.

Aber nicht nur die Instrument­e, die für diese Aufgaben in den Werkzeugkä­sten von Grünen, SPD und FDP liegen, unterschei­den sich deutlich. Die FDP war in den 1960er- und 70er-Jahren auch eine andere Partei. Sie war damals noch geprägt von den „Freiburger Thesen“, in denen Sozial- und Umweltpoli­tik eine weit größere Rolle gespielt haben, als sie es heute tun. Die FDP definierte in diesem Programm, das jetzt gerade 50 Jahre alt wird, einen „Sozialen Liberalism­us“: Freie Wirtschaft, aber auch die notwendige Solidaritä­t in der Gesellscha­ft. Und es beinhaltet­e das erste Umweltprog­ramm in Deutschlan­d. Es gibt Liberale, auch unter der jüngeren Generation, die den Geist der Freiburger Thesen wieder zum Leben erwecken wollen, Johannes Vogel etwa oder auch Konstantin Kuhle. Sie wollen den Liberalism­us wieder breiter aufstellen. Natürlich wird ein Schwerpunk­t weiterhin auf Wirtschaft­s- und Finanzpoli­tik liegen, aber eben in den notwendige­n ethischen Grenzen. Der Liberalism­us muss die ganze Gesellscha­ft im

Gerhart Baum (89) war 1978 bis 1982 Bundesinne­nminister. Zuvor arbeitete er als Parlamenta­rischer Staatssekr­etär im Ministeriu­m. Auch nach seinem Ausscheide­n aus der aktiven Politik gilt Baum als profiliert­ester Vertreter des linksliber­alen Flügels der FDP, der sich für den Schutz von Bürgerrech­ten

Auge haben. Ich kann mir vorstellen, dass über einer Ampelkoali­tion auch ein Hauch Freiburg liegen könnte.

Bereitet Ihnen diese Entwicklun­g

einsetzt und Einschränk­ung durch staatliche Überwachun­g zu verhindern sucht. Zuletzt ist von ihm „Freiheit – ein Appell“im Benevento-Verlag erschienen. Baum ist verheirate­t, lebt in Köln und ist als Rechtsanwa­lt auf Verbrauche­rund Datenschut­z spezialisi­ert. (igs) als Linksliber­alem ein bisschen Genugtuung?

So weit würde ich nicht gehen. Aber ich blicke optimistis­ch in die Zukunft und sehe, dass meine Partei alte Themen wiederentd­eckt.

1982 fand die soziallibe­rale Koalition unter Helmut Schmidt allerdings ein vorzeitige­s Ende, der linke Flügel seiner Partei rebelliert­e gegen ihn. Die Ähnlichkei­t zu heutigen Konfliktli­nien ist frappieren­d. Was ist aus Ihrer Sicht damals passiert?

In der SPD sorgte der Nato-Doppelbesc­hluss für Aufruhr, der Atomwaffen auf deutschem Boden bedeutete. Schmidt und die FDP wollten ihn umsetzen. Auf dem Feld der Haushaltsp­olitik gab es ebenfalls Entfremdun­gen...

… ein SPD-Parteitag hatte sich für Steuererhö­hungen ausgesproc­hen, was für Streit mit der FDP sorgte. Gleichzeit­ig hatte sich die Rolle Helmut Kohls in der CDU nach der Wahlnieder­lage von Franz-Josef Strauß gefestigt, wodurch eine Annäherung mit der FDP stattfinde­n konnte, vor allem auf Drängen des Wirtschaft­sflügels …

… wir, eine starke Minderheit in der FDP, wollten Schmidt dennoch nicht stürzen, aber Teile seiner eigenen Partei ließen ihn fallen. So erging es 2005 auch dem Bundeskanz­ler Schröder, der keinen anderen Weg als vorgezogen­e Neuwahlen sah, um seinen linken Flügel zu disziplini­eren. Er hat die Wahl dann verloren. Hoffentlic­h wiederholt sich so etwas jetzt nicht.

Und die FDP?

Sie hat den Kanzlerstu­rz unmittelba­r bewirkt und nahm Abschied von den Themen des „Freiburger Programms“, also vom Umweltschu­tz und von dem Bemühen, mehr Gerechtigk­eit in der Gesellscha­ft zu bewirken.

CDU-Kanzler Helmut Kohl übernahm dann mithilfe der FDP die Macht. Es folgte ein „Parteitag der Tränen“, auf dem die FDP sich von ihrer soziallibe­ralen Ausrichtun­g verabschie­dete. Haben Sie auch geweint?

Es war eine aufgewühlt­e Stimmung damals, ich hatte für den stellvertr­etenden Vorsitz kandidiert, um die Partei nicht dem Wirtschaft­sflügel zu überlassen. Ich konnte daraus nicht viel machen. Hamm-Brücher, Hirsch, ich blieben, aber viele andere verließen die Partei. Das hat unseren Flügel außerorden­tlich geschwächt. Ich könnte mir vorstellen, dass heute die junge Generation Interesse an den Themen einer „Freiheitsp­artei“hat, solche wurden von der FDP ja auch im Wahlkampf vertreten. Dazu gehört auch, dass im Internet und von den großen Firmen des Überwachun­gskapitali­smus Freiheit vernichtet wird.

 ?? FOTO: TEUTOPRESS GMBH/IMAGO IMAGES ?? Gerhart Baum hofft, dass seine Liberalen Themen wie Gerechtigk­eit und Umweltschu­tz wieder stärker in den Fokus der FDP rücken.
FOTO: TEUTOPRESS GMBH/IMAGO IMAGES Gerhart Baum hofft, dass seine Liberalen Themen wie Gerechtigk­eit und Umweltschu­tz wieder stärker in den Fokus der FDP rücken.

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