Lindauer Zeitung

Wie ein Computer Beethovens 10. Sinfonie vollendet

In einem Projekt wird Künstliche Intelligen­z mit Informatio­nen gefüttert und komponiert so das letzte Werk zu Ende – Überwältig­ende Momente fehlen

- Von Jonas-Erik Schmidt

(dpa) - Meister, erster Popstar der Musikgesch­ichte, Jahrhunder­tgenie: Nur wenige Komponiste­n werden so verehrt und überhöht wie Ludwig van Beethoven. Zu seinem Status als Säulenheil­iger der Musik passt die Art, wie uns der 1827 verstorben­e Maestro heute noch auf Gemälden entgegentr­itt: Mit fest entschloss­enem Blick und wilder Mähne. Die Frage ist nun: Passt der Inhalt dieses genialen Wuschelkop­fs in eine Hosentasch­e?

So ganz abwegig erscheint der Gedanke nicht mehr. Zumindest hat ein Team von Musikwisse­nschaftler­n und Programmie­rern nun den Versuch unternomme­n, eine „Beethoven-KI“zu entwickeln, die auf einen kleinen USB-Stick passt. KI steht für Künstliche Intelligen­z. Die Idee: Einen Computer mit so vielen Informatio­nen zu füttern, bis er komponiere­n kann wie dereinst Beethoven – und etwas zu vollenden vermag, das dem Meister vor seinem Tod nicht mehr gelang: eine 10. Sinfonie. Finanziert wurde das Projekt von der Deutschen Telekom.

Das Ergebnis dieses Experiment­s lässt sich – nach etwas Verzögerun­g wegen der Corona-Pandemie – nun auf CD hören. Dass es sich um ein ambitionie­rtes Unterfange­n handelt, ist allen Beteiligte­n klar. Die 10. Sinfonie ist nicht irgendein beliebiges Stück, sondern eine Art klaffende Wunde in der Musikgesch­ichte. Zeitweise wurde ihre Existenz von der Musikwelt sogar angezweife­lt – zu groß war der Mythos um Beethovens „Neunte“. Die landläufig­e Meinung: Der Meister selbst habe mit dem Schlusscho­r „An die Freude“sein sinfonisch­es Werk vollendet.

So war es aber keineswegs. „Beethoven hat in der Regel an zwei Sinfonien gleichzeit­ig gearbeitet. Während er also an der 9. Sinfonie schrieb, brachte er auch Ideen für ,die andere’ zu Papier, wie er sie nannte“, sagt Matthias Röder, Direktor des Karajan Instituts in Salzburg, der das KI-Team geleitet hat. Geblieben sei es aber bei Skizzen, letztlich Ideen, in einem sehr frühen Stadium der Kompositio­n. Beethoven starb, bevor er die 10. Sinfonie vollendet hatte.

Röder und seine Kollegen, darunter der KI-Experte Ahmed Elgammal und der Komponist Walter Werzowa, haben sich über dieses Material gebeugt. Sie fanden Noten, aber manchmal auch Wörter, etwa spirituell­e Gedanken. Daraus versuchten sie abzuleiten, welche Art von Werk dem Komponiste­n vorgeschwe­bt haben könnte. Welche Richtung. Und sie fütterten die KI – mit Beethoven, aber auch mit Musik von Zeitgenoss­en wie Mozart oder Haydn. Sie trainierte­n sie.

Den eigentlich­en Entstehung­sprozess muss man sich dann wie eine Art Ping-Pong-Spiel zwischen Mensch und Maschine vorstellen. Die KI machte auf Basis ihrer Daten

Vorschläge, wie eine bestimmte Stelle weitergefü­hrt werden könnte. Das Expertente­am schaute sie an, wählte aus und spielte die Entscheidu­ng zurück ins System.

Man darf das Projekt also nicht so verstehen, dass man einem Computer die alleinige Kontrolle überlassen hätte. Die Auswahl der Stücke, anhand derer die KI lernte, wie Beethoven klingt, der Auswahlpro­zess – an vielen Stellen waren menschlich­e Entscheidu­ngen gefragt.

Schon häufiger gab es Versuche, Computerpr­ogramme komponiere­n zu lassen. Dazu zählt die „Fertigstel­lung“der 8. Sinfonie in h-Moll von Franz Schubert (1797-1828). Auch da war ein Unternehme­n aus der Kommunikat­ionsbranch­e involviert, der Smartphone-Hersteller Huawei.

Wenn man sich an einen Übervater wie Beethoven herantraut, ist Kritik gleichwohl vorprogram­miert. Die Beteiligte­n betonen aber, dass man den Genius natürlich nicht vom Sockel stoßen wolle. Es handele sich um ein Experiment, um zu zeigen, wie kreative Zusammenar­beit von menschlich­er und künstliche­r Intelligen­z funktionie­ren könne.

„Wir möchten mit diesem Projekt nicht sagen, dass eine Maschine plötzlich besser komponiere­n kann als Beethoven“, erklärt Röder. Er sagt aber auch: „Wenn Beethoven heute leben würde, würde er all diese Technologi­en ausprobier­en. Davon bin ich überzeugt.“

Der Beethoven-Experte Heinz von Loesch hat sich die Aufnahmen bereits angehört. „Kompositio­nstechnisc­h könnte meines Erachtens alles von Beethoven sein“, sagt er. Im Detail sei vieles sehr schön gemacht worden. Auch die Rahmenbedi­ngungen hält er für klug gewählt. „Man nimmt eher das Lyrische als Fluchtpunk­t, weniger das Heroische. Man hat hier nicht versucht, die 9. Sinfonie zu überbieten.“Für einen Geniestrei­ch hält er die Sinfonie gleichwohl nicht.

Es gebe beispielsw­eise so gut wie keine ikonischen Momente beim Anhören. „Es ist alles schön gemacht, aber es gibt nichts Überwältig­endes“, sagt von Loesch. „Weder im Bereich des Heroischen noch des Lyrischen. Man fühlt sich Gott nicht wirklich nah.“

Legitim sei so ein Projekt dennoch, denn es behaupte ja niemand, es sei Beethoven selbst. Widersprec­hen will er allerdings bei der Frage, ob der Komponist selbst eine derartige Technologi­e gewählt hätte. „Beethoven war der Meinung, dass er das originalst­e Genie aller Zeiten bis dato ist“, sagt von Loesch. „Er hätte sein Material nicht von jemand anderem substanzie­ll bearbeiten lassen.“

Ludwig van Beethoven X – The AI Project. Modern Recordings (Warner). 17,88 Euro.

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