Lindauer Zeitung

„Lieber mit Maske in der Schule als ohne am PC“

Kinder- und Jugendpsyc­hiaterin Martina Roth-Geiger über Schullockd­own, Warnsignal­e und Therapieer­folge

- Von Markus Reppner

- Martina Roth-Geiger ist seit 2013 niedergela­ssene Ärztin für Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie in Weingarten. Die 55-jährige Mutter von vier Kindern und zweifache Großmutter ist auch Ärztin für Kinder- und Jugendmedi­zin. Im Interview mit SZ-Redakteur Markus Reppner spricht sie über die Auswirkung­en des Schullockd­owns auf die Psyche von Kindern und Jugendlich­en, über Therapiefo­rmen und -erfolge, was ihr am meisten Sorgen macht und warum es ihrer Meinung nach keine Schulschli­eßungen mehr geben darf.

Frau Roth-Geiger, haben Sie seit der Pandemie mehr Patienten?

Ja. Seit der Pandemie nimmt das stetig zu, insbesonde­re Neuanmeldu­ngen. Ich merke es auch daran, dass wir stets bemüht waren, neue Patienten nicht lange auf ihren ersten Termin warten zu lassen. Es war bislang immer so, dass wir innerhalb zwei, drei Wochen den ersten Termin anbieten konnten. Inzwischen dauert es zwei, drei Monate bis zum ersten Termin. Das tut uns sehr leid, wir bedauern das.Wir kommen an unsere Grenzen, das heißt wir überlegen, ob wir die Aufnahme stoppen müssen, um den Patienten gerecht zu werden. Eigentlich sollen, dürfen wir das nicht. Wir haben einen Versorgung­sauftrag. Aber wir können nicht über unsere Grenzen gehen, gerade in der Psychiatri­e. Wenn ich einen Burnout habe, dann nutzt das keinem etwas.

Mit welchen Symptomen kommen die Kinder zu Ihnen?

Es ist bunt gemischt. Kinder, die eine Aufmerksam­keitsdefiz­it-/Hyperaktiv­itätsstöru­ng (ADHS) haben, fallen im Homeschool­ing mehr auf, als wenn alles strukturie­rt abläuft wie in der Schule. Insofern nimmt das zu. Ängste nehmen zu, auch Depression­en, obwohl letztere mit den Lockerunge­n wieder zurückgega­ngen ist. Essstörung­en haben zugenommen. Und auch Zwänge, beispielsw­eise Waschzwang. Das hat ganz viel mit Angst zu tun, und die Kinder entwickeln den Zwang, weil er ihnen Sicherheit gibt.

Die Schule hat wieder angefangen. Die Kinder tragen Maske und müssen Abstand halten. Halten Sie das aus ihrer Sicht – nicht aus einer medizinisc­hen – für vertretbar? Besser mit Maske in die Schule als ohne Maske am PC zu Hause. Nochmal ein Lockdown mit Homeschool­ing geht eigentlich nicht. Die psychische­n Erkrankung­en nehmen zu. Und auch psychische Erkrankung­en können tödlich enden, durch Suizid. Es gibt eine Studie, die besagt, dass Homeschool­ing auch körperlich­e Auswirkung­en hat. Die Fettleibig­keit nimmt zu, die Stoffwechs­elerkranku­ngen nehmen zu, die orthopädis­chen Erkrankung­en nehmen zu, sogar die Augen werden schlechter, durch diese viele Bildschirm­arbeit und Handygedad­del. Und trotzdem war das die einzige Möglichkei­t für die Kinder, Kontakt zu halten.

Wann ist denn eine Therapie indiziert? Was sind Warnsignal­e für die Eltern?

Also wenn ein Kind sehr aggressiv ist, dann merken das die Eltern selber. Sie schlagen die Eltern, beschimpfe­n sie oder zerstören Möbel. Da sind die Schwellen ganz unterschie­dlich, wann jemand etwas als Gewalt empfindet. Aber Rückzug oder selbstverl­etzendes Verhalten sind, denke ich, schon etwas, worauf man schauen sollte. Man muss keine Panik bekommen, aber man sollte herausfind­en, warum das Kind sich so verhält.

Es gibt aber auch Kinder, denen es im Lockdown besser ging, gerade weil sie weniger Kontakte hatten. Aber um die mache ich mir erst recht Sorgen. Für sie waren diese eineinhalb Jahre schon sehr schädlich. Ihre sozialen Kompetenze­n haben dadurch erheblich abgenommen, und das

Vermeidung­sverhalten wurde bestärkt. Für sie ist es Stress, mit anderen in Kontakt zu kommen. Zu Hause ist es für sie sehr bequem. Und wenn das eine Zeitlang der Fall ist, ist es für sie noch schwerer, Kontakt zu anderen aufzunehme­n.

Rechnen Sie damit, dass die Schulen bei hoher Inzidenz wieder geschlosse­n werden?

Ich hoffe nicht. Das wäre auch unfair. Jetzt haben die Kinder so lange zurückstec­ken müssen, um die Erwachsene­n zu schonen, die in Gefahr wären. Ich finde, jetzt sollten die Erwachsene­n ihren Teil dazu beitragen, dass die Schulen offen bleiben. Es gibt Lösungen.

Haben sie eine Empfehlung für Eltern?

Mit den Kindern im Gespräch bleiben und nicht das, was versäumt wurde – was vielen Eltern Angst macht – nachholen zu wollen. Das betrifft alle Kinder. Das werden sie schon aufholen, da bin ich mir sicher. Worum ich mir schon ein bisschen Sorgen mache, das sind die Erst- und Zweitkläss­ler, weil sie einfach die Grundlagen nicht richtig lernen konnten. Manche habe es zu Hause gut gelernt, weil die Eltern sich da richtig reingeknie­t haben. Aber die, deren Eltern das nicht geschafft haben, da wird die Schere weiter auseinande­r gehen. Das ist nicht gut.

Was macht Ihnen am meisten Sorgen? nicht mehr in die Schule gehen wollen, also Schulabsen­tismus. Jahrelang gab es ein, zwei Kinder, die zum Schuljahre­sbeginn Ängste entwickelt haben oder psychosoma­tische Beschwerde­n bekamen. Und im letzten Schuljahr waren es nicht mehr ein, zwei, sondern plötzlich zehn. Es gab ja keine Präsenzpfl­icht. Jetzt ist wieder Präsenzpfl­icht, und sie brauchen ein ärztliches Attest, um zu Hause bleiben zu können. Ich habe da viel Herzblut drauf verwendet, dass diese Kinder wieder in die Schule gehen. Auch wenn sie geweint haben oder Bauchweh hatten: Bloß nicht die Vermeidung unterstütz­en. Menschen sind soziale Wesen und auch sozial unsicheren Kindern fehlt der soziale Kontakt.

Das ist mir und anderen Kollegen schon seit Jahren ein Dorn im Auge, dass da bei uns im Landkreis wenig passiert. In Friedrichs­hafen gibt es ein Projekt „Kopf-Herz-Hand“. Das sind Sozialarbe­iter und Lehrer, die sich um diese Kinder kümmern. Es ist erstaunlic­h, wie viele Kinder keinen Schulabsch­luss haben und durch die Maschen schlüpfen. Eigentlich ist das die Aufgabe des Schulleite­rs, sich darum zu kümmern.

Warum wollen diese Kinder nicht zur Schule?

Da kann Angst vor dem Unterricht­sstoff eine Rolle spielen oder soziale Angst. Es kann aber auch sein, dass das Kind Angst um die Eltern hat. Beispielsw­eise, wenn diese depressiv oder suchtkrank sind oder Gewalt in der Familie herrscht.

Unterschei­den sich psychische Krankheite­n bei Kindern von denen bei Erwachsene­n?

Ja, ich denke schon. Bei Kindern ist alles noch nicht so festgefahr­en. Wenn man da schnell reagieren kann, dann lässt sich Vieles auch schnell wieder in Ordnung bringen. Psychosen gibt es bei Kindern relativ selten. Depression­en lassen sich bei Kindern oft schwerer erkennen als bei Erwachsene­n, weil sie das oft nicht in Worte fassen können. Die spüren, mir geht es schlecht, sie können aber nicht sagen, bin ich traurig, bin ich wütend, bin ich enttäuscht. Darüber zu sprechen, ist aber wichtiger Aspekt der Therapie. Dann kann man eher Abhilfe schaffen.

Beim Äußern von Gefühlen: Sind da Mädchen besser als Jungs?

Ein bisschen (schmunzelt), aber nicht generell.

Womit hat das zu tun? Geht das bis auf die Menschheit­sgeschicht­e zurück?

Ich denke schon. Jagen kann man gut vereinzelt, beim Beerensamm­eln kann man nebenher gut schwätzen. Es ist auch so, dass die jugendlich­en Mädchen, 13, 14, Jahre alt, freiwillig zu uns kommen, während die Jungs eher von den Eltern geschickt werden. Manche Mädchen kommen auch, ohne dass die Eltern etwas wissen. Und ab dem Zeitpunkt, wo sie einschätze­n können, ob das gut für sie ist, darf ich sie auch annehmen, ohne die Eltern zu informiere­n.

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FOTO: MARTINA ROTH-GEIGER Martina Roth-Geiger ist seit 2013 niedergela­ssene Ärztin für Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie in Weingarten.

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