Der schnelle Sprung auf zwölf Euro
Über die Auswirkungen des SPD-Anliegens für mehr Mindestlohn wird viel spekuliert
- „Partnerschaft bedeutet ein Geben und Nehmen“– so begründete FDP-Chef Christian Lindner das Zugeständnis der Liberalen an die SPD in den Sondierungsgesprächen, einen Mindestlohn von zwölf Euro pro Stunde zu akzeptieren. Das war eines der zentralen Wahlkampfversprechen des sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten Olaf Scholz, und auch die Grünen hatten sich dafür starkgemacht. Die FDP ist zwar grundsätzlich gegen Eingriffe des Staates. Doch ist dies für sie kein Herzensanliegen. So heißt es jetzt: „Wir werden den gesetzlichen Mindestlohn in einer einmaligen Anpassung auf zwölf Euro pro Stunde erhöhen.“Das könnte wohl frühestens am 1. Juli 2022 wirksam werden.
Wie ist derzeit der Stand?
Der Mindestlohn wurde nach langen Diskussionen von der Großen Koalition am 1. Januar 2015 eingeführt. Er startete mit 8,50 Euro pro Stunde. Die Mindestlohnkommission überprüft alle zwei Jahre die Höhe. In ihr sind je drei Vertreter von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften sowie ein neutraler Vorsitzender stimmberechtigt. Hauptmaßstab ist die Entwicklung der Löhne. Seit 1. Juli 2021 beträgt der Mindestlohn 9,60 Euro. Schon jetzt steht fest, dass er am 1. Januar 2022 auf 9,82 Euro und sechs Monate später auf 10,45 Euro steigt – wenn nicht die neue Koalition eingreift.
Wieso ausgerechnet zwölf Euro? Zum einen ist es das Ziel des Mindestlohns, ein „armutsfestes, existenzsicherndes Lohnniveau“zu gewährleisten. Als ein Maßstab gelten 60 Prozent des mittleren Einkommens aller Arbeitnehmer – ein international gebräuchlicher, wenn auch letztlich willkürlicher Wert. Aktuell wären das in Deutschland 12,42 Euro, so Berechnungen des Wirtschaftsund Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Zum anderen gibt es die Forderung, der Lohn müsse hoch genug sein, um Altersarmut zu vermeiden. Keiner solle auf Grundsicherung im Alter angewiesen sein. Bei zwölf Euro kämen nach 45 Berufsjahren etwa 950 Euro Rente im Monat zustande, hat der Bundesverband der Rentenberater ermittelt. Der genaue Betrag hängt von der Wochenarbeitszeit ab. Zudem funktioniert die Rechnung nur, wenn es keine Arbeitslosenzeiten gibt.
Welche Rolle spielt Europa?
Die EU-Kommission würde gerne
Vorgaben für einen Mindestlohn in der ganzen Gemeinschaft machen – nicht als absoluten Betrag, sondern 60 Prozent des mittleren Lohns des jeweiligen Landes. Anfang des Jahres gab es in sechs der 27 Mitgliedsländer keinen gesetzlichen Mindestbetrag, so eine Übersicht des WSI. Allerdings ist umstritten, ob die EU für dieses Thema überhaupt zuständig ist.
Wie viele würden von zwölf Euro Mindestlohn profitieren?
Etwa zehn Millionen Arbeitnehmer, schätzt das Bundesarbeitsministerium. Davon wären rund ein Drittel Minijobber, wie andere Zahlen zeigen. Etwa jeder vierte Beschäftigte bekäme mehr Stundenlohn. Zwei Drittel der Begünstigten wären Frauen. In Ostdeutschland bekäme gut ein Drittel der Beschäftigten mehr Geld, also besonders viele. Besser dran wären nicht nur Arbeitnehmer in Branchen mit traditionell niedrigen Löhnen wie dem Gastgewerbe oder dem Einzelhandel, erwartet das WSI, sondern auch etwa in Arztpraxen, Anwaltskanzleien oder in den Büroetagen.
Drohen durch die Anhebung Jobverluste?
Die Befürworter rechnen nicht damit. Sie verweisen auf die Einführung des Mindestlohns, die nicht zum Verlust von Hunderttausenden von Arbeitsplätzen geführt habe, wie manche Wirtschaftsforscher gewarnt hatten. Die Minijobs nahmen zwar etwas ab, dafür wurden aber mehr reguläre Jobs geschaffen, wofür allerdings der lang anhaltende Aufschwung der Hauptgrund war. Jetzt hoffen die Befürworter von zwölf Euro, dass es genauso läuft. Das Arbeitsministerium führt eine Studie an, wonach die Löhne insgesamt um 17,9 Milliarden Euro im Jahr steigen. Durch Lohnsteuer und Sozialversicherungsbeiträge kämen 10,9 Milliarden Euro zusätzlich in die öffentlichen Kassen. Die gesamtwirtschaftliche Produktion stiege um mindestens 50 Milliarden Euro.
Was bedeuten zwölf Euro Mindestlohn
denn für Minijobs?
Bei der aktuellen Obergrenze von 450 Euro pro Monat dürften Minijobber nur noch 8,5 Stunden pro Woche arbeiten. Daher hat die FDP eine Flexibilisierung ausgehandelt: Die Grenze soll so erhöht werden, dass zehn Stunden möglich sind, was 520 Euro ergäbe.
Was sagen die Tarifpartner?
Die Gewerkschaften sind begeistert: Sie fordern schon lange mindestens zwölf Euro. Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger dagegen beklagte einen „schweren Eingriff in die Tarifautonomie“, der „brandgefährlich“sei. Er würde in über 190 Tarifverträge eingreifen und „eine enorme Lohnspirale nach oben erzeugen und somit den Arbeitsmarkt für Geringqualifizierte unheimlich erschweren“. Andere Kritiker bemängeln, dass die Politik bei Einführung des Mindestlohns versprochen habe, sich nach der einmaligen Festlegung auf 8,50 Euro nicht mehr einzumischen. Politische Eingriffe machten die Mindestgrenze beliebig.