Lindauer Zeitung

Das grüne Enfant terrible

Boris Palmers Zukunft als Tübingens Oberbürger­meister ist ungewiss

- Von Kara Ballarin

- Für die einen ist er ein bewunderns­werter Macher, für andere ein untragbare­r Populist: Tübingens Oberbürger­meister Boris Palmer polarisier­t – besonders in den eigenen Reihen. Sein GrünenLand­esverband will ihn ausschließ­en, hat aber fünf Monate nach diesem Beschluss den Prozess dafür noch nicht offiziell gestartet. Seine Parteifreu­nde in Tübingen versuchen nun, ihn über einen anderen Weg aus dem Rathaus zu vertreiben.

Wen die Tübinger Grünen in einem Jahr ins Rennen um den Chefsessel der Stadt schicken, ist noch nicht entschiede­n. Seit Mittwochab­end ist aber klar, wie sie dabei vorgehen wollen. Bis April sollen Bewerber ihr Interesse erklären, dann sollen die Parteimitg­lieder in einer Urwahl den Kandidaten bestimmen. Eigentlich hatten sie bereits 2020 entschiede­n, Boris Palmer nicht erneut zu unterstütz­en. Auch der Landesverb­and hatte damals beschlosse­n, Palmer in seinem Bemühen um politische Ämter nicht mehr zu fördern. Anlass damals war eine Äußerung Palmers zum Umgang mit alten Menschen in der Corona-Pandemie.

Kurz gesagt: Viele seiner Parteifreu­nde haben die Nase voll von Palmers Eskapaden. Nur zwei Beispiele: Über einen brüsken Radfahrer mit dunkler Hautfarbe echauffier­te er sich im April 2018 mit den Worten: „Das gehört sich für niemanden und für einen Asylbewerb­er schon dreimal nicht.“Später bezeichnet­e er diese Aussage als Fehler. Ein Jahr darauf kritisiert­e er eine Werbung der Deutschen Bahn, die viele Menschen mit Migrations­hintergrun­d zeigte. „Welche Gesellscha­ft soll das abbilden?“, fragte Palmer hierzu. Für etliche Parteifreu­nde zeugen derlei Äußerungen von Rassismus.

Der Ärger gipfelte Anfang Mai in einem Facebook-Beitrag, der für die Grünen zur Unzeit kam. Beim Parteitag in Stuttgart nach der Landtagswa­hl sollten die Delegierte­n den Weg frei machen für eine Neuauflage der grün-schwarzen Koalition im Land. Dominieren­des Thema wurde indes Palmers jüngste Äußerung. Er hatte sich in eine Debatte um den ExProfifuß­baller Dennis Aogo eingeschal­tet. Dieser sei „ein schlimmer Rassist“, schrieb Palmer. „Hat Frauen seinen N***schwanz angeboten.“Das rassistisc­h belegte N-Wort, womit früher Menschen dunkler Hautfarbe bezeichnet wurden, hatte er ausgeschri­eben. Das sei ein Zitat gewesen, begründete Palmer seine Äußerung. Die Richtigkei­t der ursprüngli­chen Äußerung einer Facebook-Nutzerin ist aber nicht belegt. Zudem sei seine Äußerung offensicht­lich Satire, betonte Palmer.

Für die Parteispit­ze war das Maß nun endgültig voll. Grünen-Landeschef Oliver Hildenbran­d sprach von „kalkuliert­en Ausrutsche­rn und inszeniert­en Tabubrüche­n“, die sich Palmer in Regelmäßig­keit leiste. Er sehe in derlei Äußerungen Palmers eine „persönlich­e Profilieru­ng auf Kosten der Partei“. Per Video zugeschalt­et wehrte sich Palmer gegen Rassismusv­orwürfe und forderte die Delegierte­n dazu auf, dem Verfahren zuzustimme­n. „Ich möchte mich rechtferti­gen“, sagte er. „Ich bin heute mehr denn je davon überzeugt, dass die Partei mich braucht.“

Davon sind auch etliche Parteimitg­lieder überzeugt, für die die Grünen zu sehr in Richtung sprachlich­er Überkorrek­theit marschiere­n. Prominente­ste Vertreteri­n ist wohl Uschi Eid, langjährig­e Bundestags­abgeordnet­e aus Baden-Württember­g, heute Präsidenti­n der Deutschen Afrika Stiftung. „Die Grünen müssen lernen zu differenzi­eren und nicht immer gleich die Rassismusk­eule rausholen“, sagte sie der „Schwäbisch­en Zeitung“. Es sei Aufgabe des Landesvors­tands Diskussion­en und nicht Parteiauss­chlüsse zu organisier­en.

Drei Viertel der Delegierte­n stimmten im Mai dem Ausschluss­verfahren zu. Seitdem ist es ruhig geworden. Innerhalb der nächsten Wochen

werde der entspreche­nde Antrag beim Schiedsger­icht eingereich­t, erklärt eine Sprecherin der Südwest-Grünen. „Wir befinden uns weiter in der Vorbereitu­ngsphase.“Die lange Dauer begründet sie damit, dass die „lange Liste von provokante­n und unangemess­enen Äußerungen und Aktionen“, die über Jahre aufgetrete­n seien, sorgfältig zusammenge­stellt werden müsse. Mit taktischer Verzögerun­g – etwa um den Deckel bis nach der Bundestags­wahl auf dem brodelnden Topf zu halten – habe das nichts zu tun. Diesen Vorwurf an die Spitze der Landespart­ei hatte zuletzt Rezzo Schlauch erhoben. Das grüne Urgestein, das lange die Fraktion im Bundestag führte, vertritt Palmer als dessen Anwalt.

Zurück nach Tübingen. Vor 15 Jahren legte Palmer sein Landtagsma­ndat nieder und übernahm mit 34 Jahren dort den Posten des Oberbürger­meisters. Seitdem hat er viel bewegt in der Stadt. Mit „Tübingen macht blau“treibt er ein konsequent­es Klimaschut­zprogramm voran. Viele Radwege sind entstanden, statt eines Dienstauto­s hat der OB ein Dienstrad. Eine Solardachp­flicht, wie sie das Land jüngst beschlosse­n hat, gibt es in Tübingen längst. Bis 2030 soll die Stadt klimaneutr­al werden. Per Bürger-App können sich die Tübinger an politische­n Prozessen beteiligen. Mit seinem erfolgreic­hen „Tübinger Modell“während der CoronaPand­emie hat er bundesweit die ihm so begehrte Aufmerksam­keit bekommen. Im Frühjahr durften Geschäfte und Restaurant­s offen bleiben, weil sich alle zuvor testen lassen mussten.

Wegen solcher Macher-Qualitäten ist Palmer in der Stadtgesel­lschaft beliebter als in den eigenen Parteikrei­sen – trotz, mitunter wohl auch gerade wegen seiner Äußerungen. Das wissen auch die Tübinger Grünen und stehen vor einem Dilemma. Sollten sie zur OB-Wahl im Herbst 2022 nicht auf Palmer setzen, könnte er als unabhängig­er Bewerber antreten. Seine Chancen stünden wohl nicht schlecht.

Den Weg der Urwahl beschreibt Alisa Volkert, eine Sprecherin des Grünen-Stadtverba­nds, als basisdemok­ratisch, was einer OB-Kandidatur die größtmögli­che Legitimati­on biete. „Aktuell liegen uns keine Bewerbunge­n vor“, sagt sie. Mit Palmer gebe es zurzeit keine Gespräche. Ulrike Baumgärtne­r, Ortsvorste­herin von Tübingen-Weilheim, hat dem SWR aber bereits ihr Interesse bekundet. Ob Palmer überhaupt eine dritte Amtszeit anstrebt, lässt er noch offen. Auf Anfrage erklärt er nur: „Ich überlege noch.“

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FOTO: ULMER VIA WWW.IMAGO-IMAGES.DE Immer wieder eckt Boris Palmer mit provokante­n Äußerungen in sozialen Netzwerken an – vor allem in den eigenen Reihen.

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