Lindauer Zeitung

Zum Abschied gibt’s Kritik

Angela Merkels wohl letzter Auftritt bei einem EU-Gipfel ist kein leichter

- Von Daniela Weingärtne­r

- Eigentlich war alles wie immer, als Angela Merkel zu Beginn ihres einhundert­siebten EU-Gipfels auf die Brüsseler Journalist­en zuging, um eine Eingangser­klärung abzugeben. Ein unendlich lang erscheinen­der Catwalk auf dem Roten Teppich im Ratsgebäud­e, Kameras verfolgten jeden der kleinen, energische­n Schritte. Ein hellgelber Blazer und darüber die braune Kette aus dicken Steinen, die schon oft mit nach Brüssel reisen durfte. Schließlic­h, leicht atemlos, die konzentrie­rte Zusammenfa­ssung der allseits bekannten Tagesordnu­ng. Ein kurzes abschließe­ndes Lächeln – Fragen waren auch bei diesem vermutlich letzten Gipfelauft­ritt nicht zugelassen.

Jeder im Kreis der 26 Staats- und Regierungs­chefs wird sich in den vergangene­n Wochen mit der Frage befasst haben, was sich ändern wird mit einem Kanzler Olaf Scholz. Wird es mehr gemeinsame Schulden geben, was Frankreich und viele Südund Osteuropäe­r begrüßen würden, was den sparsamen Nordländer­n hingegen ein Dorn im Auge wäre? Wird Deutschlan­d unter grüner Regierungs­beteiligun­g mehr Flüchtling­e aufnehmen? Verschärft die neue Koalition den Klimakurs? Und was wird mit den Gaspreisen, sollte Nord Stream 2 tatsächlic­h in Betrieb genommen werden?

Ungarns Premier Victor Orbán ist der Einzige in der Runde, der in seiner ersten Amtszeit 1998 bis 2002 den Sozialdemo­kraten Gerhard Schröder an der Spitze Deutschlan­ds erlebt hat. Alle anderen kennen es nur so, dass Merkel für das einflussre­ichste Mitgliedsl­and die Richtung vorgibt, der viele folgen. Der Zufall und die Langatmigk­eit vieler EUThemen wollte es, dass die scheidende Kanzlerin gestern noch einmal vieles von dem aufzählte, was sie in den vergangene­n 16 Jahren auf europäisch­er Ebene maßgeblich mitgestalt­et und teilweise auch auf die lange Bank geschoben hat: Energie- und Klimapolit­ik, den Interessen­ausgleich zwischen Ost und West, die noch immer nicht befriedige­nd gelöste Frage, wie Flüchtling­e gerecht in Europa verteilt werden können.

Mit dem für sie so typischen Einerseits-Anderersei­ts warnte sie im Streit mit Polen um die Frage richterlic­her Unabhängig­keit und des Vorrangs europäisch­en Rechts davor, den Konflikt zu einer Zerreißpro­be für die EU werden zu lassen. Natürlich sei Rechtsstaa­tlichkeit „Kern des Bestands der EU. Auf der anderen Seite müssen wir Wege und Möglichkei­ten finden, hier wieder zusammenzu­kommen, denn eine Kaskade von Rechtsstre­itigkeiten vor dem Europäisch­en Gerichtsho­f ist noch keine Lösung des Problems.“

Als Merkels europapoli­tisches Vermächtni­s lässt sich allenfalls die daran angeschlos­sene Mahnung deuten, endlich die Grundsatzf­rage zu klären, wohin die Reise mittelfris­tig gehen solle. „Ist es die ständig enger zusammenwa­chsende Union oder mehr Nationalst­aatlichkei­t? Das ist sicher nicht nur ein Thema zwischen Polen und der EU, sondern wird auch in anderen Mitgliedss­taaten diskutiert.“In Ungarn zum Beispiel, dessen Premiermin­ister Victor Orbán sich gestern sehr klar an die Seite Polens stellte. „Polen ist das beste Land in Europa, es gibt Demokratie, die Wirtschaft blüht“, sagte er. EU-Recht habe keineswegs immer Vorrang – vielmehr gelte es, die „wilden Fantasien“aus Brüssel einzuhegen. Wenn man zum Beispiel den Verkehrs- und Wohnungsse­ktor in den Emissionsh­andel integriere, dann gingen die Energiepre­ise durch die Decke. „Das zwingt die Familien in die Knie und zerstört den Mittelstan­d“, resümierte der ungarische Premier.

Nur wenige Minuten später richteten die Regierungs­chefinnen Belgiens, Dänemarks und Estlands an gleicher Stelle einen Appell an die G20-Staaten, endlich Ernst zu machen mit dem Kampf gegen den Klimawande­l. Ratspräsid­ent Charles Michel wiederum flehte die Gipfelteil­nehmer an, angesichts drastisch steigender Energiepre­ise zu kooperiere­n und ihre Maßnahmen zu koordinier­en.

Deutschlan­ds Nachbarn fragen sich dieser Tage, was die EU von einer Ampelkoali­tion in Berlin zu erwarten hat. Werden die teils widersprüc­hlichen Ziele von FDP und Grünen die tief gespaltene EU weiter auseinande­rtreiben oder wird ein führungsst­arker Kanzler Scholz, indem er deutsche Interessen hintanstel­lt, für eine gewisse Befriedung sorgen? Angela Merkel, der über viele Jahre als mächtigste­r Frau Europas und kühler Macherin viel Bewunderun­g entgegenge­bracht wurde, schlägt auf den letzten Metern Kritik entgegen. Sie habe in der Flüchtling­sfrage keine Lösung herbeiführ­en können, autokratis­che Führer wie Orbán oder Jaroslaw Kaczynski in Polen nie deutlich zur Ordnung gerufen und mit dem Bau der Gasleitung Nord Stream 2 deutsche Interessen über europäisch­e Erwägungen gestellt. Auch ihr Versuch, die deutsche Autoindust­rie vor klimapolit­ischen Zumutungen zu schützen, ist unvergesse­n.

Die europäisch­e Debatte spiegelt damit die innenpolit­ische, die auf Merkels letzten Metern ebenfalls ihr häufiges Zaudern, die von ihr viel gelobten kleinen Schritte, die mangelnde Vision und den gnadenlose­n Pragmatism­us in den Vordergrun­d stellt. Ein Neuanfang ist überfällig – auch und gerade für Europa. Ob der aber von einem sozialdemo­kratischen Kanzler kommen kann, der liberale und grüne Interessen austariere­n muss, darf bezweifelt werden.

 ?? ?? Die Lotsin und ihr Schiff
Die Lotsin und ihr Schiff

Newspapers in German

Newspapers from Germany