Zum Abschied gibt’s Kritik
Angela Merkels wohl letzter Auftritt bei einem EU-Gipfel ist kein leichter
- Eigentlich war alles wie immer, als Angela Merkel zu Beginn ihres einhundertsiebten EU-Gipfels auf die Brüsseler Journalisten zuging, um eine Eingangserklärung abzugeben. Ein unendlich lang erscheinender Catwalk auf dem Roten Teppich im Ratsgebäude, Kameras verfolgten jeden der kleinen, energischen Schritte. Ein hellgelber Blazer und darüber die braune Kette aus dicken Steinen, die schon oft mit nach Brüssel reisen durfte. Schließlich, leicht atemlos, die konzentrierte Zusammenfassung der allseits bekannten Tagesordnung. Ein kurzes abschließendes Lächeln – Fragen waren auch bei diesem vermutlich letzten Gipfelauftritt nicht zugelassen.
Jeder im Kreis der 26 Staats- und Regierungschefs wird sich in den vergangenen Wochen mit der Frage befasst haben, was sich ändern wird mit einem Kanzler Olaf Scholz. Wird es mehr gemeinsame Schulden geben, was Frankreich und viele Südund Osteuropäer begrüßen würden, was den sparsamen Nordländern hingegen ein Dorn im Auge wäre? Wird Deutschland unter grüner Regierungsbeteiligung mehr Flüchtlinge aufnehmen? Verschärft die neue Koalition den Klimakurs? Und was wird mit den Gaspreisen, sollte Nord Stream 2 tatsächlich in Betrieb genommen werden?
Ungarns Premier Victor Orbán ist der Einzige in der Runde, der in seiner ersten Amtszeit 1998 bis 2002 den Sozialdemokraten Gerhard Schröder an der Spitze Deutschlands erlebt hat. Alle anderen kennen es nur so, dass Merkel für das einflussreichste Mitgliedsland die Richtung vorgibt, der viele folgen. Der Zufall und die Langatmigkeit vieler EUThemen wollte es, dass die scheidende Kanzlerin gestern noch einmal vieles von dem aufzählte, was sie in den vergangenen 16 Jahren auf europäischer Ebene maßgeblich mitgestaltet und teilweise auch auf die lange Bank geschoben hat: Energie- und Klimapolitik, den Interessenausgleich zwischen Ost und West, die noch immer nicht befriedigend gelöste Frage, wie Flüchtlinge gerecht in Europa verteilt werden können.
Mit dem für sie so typischen Einerseits-Andererseits warnte sie im Streit mit Polen um die Frage richterlicher Unabhängigkeit und des Vorrangs europäischen Rechts davor, den Konflikt zu einer Zerreißprobe für die EU werden zu lassen. Natürlich sei Rechtsstaatlichkeit „Kern des Bestands der EU. Auf der anderen Seite müssen wir Wege und Möglichkeiten finden, hier wieder zusammenzukommen, denn eine Kaskade von Rechtsstreitigkeiten vor dem Europäischen Gerichtshof ist noch keine Lösung des Problems.“
Als Merkels europapolitisches Vermächtnis lässt sich allenfalls die daran angeschlossene Mahnung deuten, endlich die Grundsatzfrage zu klären, wohin die Reise mittelfristig gehen solle. „Ist es die ständig enger zusammenwachsende Union oder mehr Nationalstaatlichkeit? Das ist sicher nicht nur ein Thema zwischen Polen und der EU, sondern wird auch in anderen Mitgliedsstaaten diskutiert.“In Ungarn zum Beispiel, dessen Premierminister Victor Orbán sich gestern sehr klar an die Seite Polens stellte. „Polen ist das beste Land in Europa, es gibt Demokratie, die Wirtschaft blüht“, sagte er. EU-Recht habe keineswegs immer Vorrang – vielmehr gelte es, die „wilden Fantasien“aus Brüssel einzuhegen. Wenn man zum Beispiel den Verkehrs- und Wohnungssektor in den Emissionshandel integriere, dann gingen die Energiepreise durch die Decke. „Das zwingt die Familien in die Knie und zerstört den Mittelstand“, resümierte der ungarische Premier.
Nur wenige Minuten später richteten die Regierungschefinnen Belgiens, Dänemarks und Estlands an gleicher Stelle einen Appell an die G20-Staaten, endlich Ernst zu machen mit dem Kampf gegen den Klimawandel. Ratspräsident Charles Michel wiederum flehte die Gipfelteilnehmer an, angesichts drastisch steigender Energiepreise zu kooperieren und ihre Maßnahmen zu koordinieren.
Deutschlands Nachbarn fragen sich dieser Tage, was die EU von einer Ampelkoalition in Berlin zu erwarten hat. Werden die teils widersprüchlichen Ziele von FDP und Grünen die tief gespaltene EU weiter auseinandertreiben oder wird ein führungsstarker Kanzler Scholz, indem er deutsche Interessen hintanstellt, für eine gewisse Befriedung sorgen? Angela Merkel, der über viele Jahre als mächtigster Frau Europas und kühler Macherin viel Bewunderung entgegengebracht wurde, schlägt auf den letzten Metern Kritik entgegen. Sie habe in der Flüchtlingsfrage keine Lösung herbeiführen können, autokratische Führer wie Orbán oder Jaroslaw Kaczynski in Polen nie deutlich zur Ordnung gerufen und mit dem Bau der Gasleitung Nord Stream 2 deutsche Interessen über europäische Erwägungen gestellt. Auch ihr Versuch, die deutsche Autoindustrie vor klimapolitischen Zumutungen zu schützen, ist unvergessen.
Die europäische Debatte spiegelt damit die innenpolitische, die auf Merkels letzten Metern ebenfalls ihr häufiges Zaudern, die von ihr viel gelobten kleinen Schritte, die mangelnde Vision und den gnadenlosen Pragmatismus in den Vordergrund stellt. Ein Neuanfang ist überfällig – auch und gerade für Europa. Ob der aber von einem sozialdemokratischen Kanzler kommen kann, der liberale und grüne Interessen austarieren muss, darf bezweifelt werden.