Lindauer Zeitung

Haben Angeklagte „Blutrache“geschworen?

Vater und Sohn wird versuchter Mord vorgeworfe­n Tochter liebt einen Mann anderer Nationalit­ät

- Von Jochen Sentner

- Ihre Familie hat die Wurzeln im Kosovo, seine stammt aus der Türkei. Die Liebe macht sich freilich nichts aus Nationalit­äten. So wird aus befreundet­en jungen Leuten mit der Zeit ein Paar. Die Familie der Frau sieht die Beziehung allerdings kritisch. Es soll Drohungen geben, sie gegen ihren Willen im Heimatland zu verheirate­n. Die 21-Jährige büxt von zu Hause aus. Ein Gespräch unter den beiden Familien am folgenden Tag eskaliert. Im Hof einer Tankstelle in Kempten sticht der Vater der Frau mit einem Messer auf deren Partner und dessen Vater ein. Aus Sicht der Staatsanwä­ltin: Versuchter Mord.

Unter großer Anteilnahm­e von Familienmi­tgliedern findet der Prozess vor der 1. Strafkamme­r des Kemptener Landgerich­ts statt. In Pausen grüßt der 56 Jahre alte Angeklagte herzlich ins Publikum. Zu Fragen des Gerichts sagen die Beschuldig­ten nicht aus. Seit dem Vorfall im Februar sitzen das Familienob­erhaupt, sein Sohn (ebenfalls wegen versuchten Mordes) und ein Schwiegers­ohn in Untersuchu­ngshaft. Dem dritten Mann wird versuchte gefährlich­e Körperverl­etzung und Nötigung vorgeworfe­n. Er war bei dem Angriff auf dem Tankstelle­ngelände dabei.

Entwickelt hatte sich das Ganze am Vorabend. Wie die Tochter als Zeugin aussagt, fürchtete sie sich, nach Hause zu gehen. Mit ihrem Freund zieht sie nachts in dessen elterliche Wohnung. Zuvor gaben sie auf der Polizeiins­pektion bekannt, dass die junge Frau möglicherw­eise von Verwandten gesucht werde. Die Beamten sollten ausrichten, dass es ihr gut gehe. Wenige Stunden später taucht tatsächlic­h der Bruder auf der Wache auf und will die Frau als vermisst melden. Der Mann wird beruhigt, über ihren Aufenthalt­sort bekommt er indes keine Auskunft.

Der türkische Vater verständig­t noch in der Nacht die andere Familie, dass die junge Frau in Sicherheit sei. Auf ihrem Handy seien unterdesse­n Drohungen eingegange­n. „Wenn du nicht heimkommst, geht das nicht gut für dich aus“, steht in Vernehmung­sakten, Absender soll der Bruder sein. Im Gerichtssa­al kann sich die Frau daran nicht mehr erinnern. Wie ihre Familie auf ihre aktuell offensicht­liche Schwangers­chaft reagiert habe, will Vorsitzend­er Richter Christoph Schwiebach­er wissen. „Ich habe Geschenke bekommen“, sagt sie.

Am Tattag verabreden sich ihr Verlobter und ihr Bruder zu einem Treffen. Beide Väter und der Schwiegers­ohn stoßen zu der Aussprache dazu. Auf einem Überwachun­gsvideo, das im Gerichtssa­al gezeigt wird, ist zu erkennen, wie sich die Männer unterhalte­n. Unvermitte­lt sticht der 56-Jährige auf den Freund seiner Tochter ein. Der rennt davon. Dann geht der Angreifer, wohl unterstütz­t von seinem mit einem Teleskopsc­hlagstock bewaffnete­n Sohn, auf den 58-jährigen Vater los. Laut Anklagesch­rift haben die Beschuldig­ten aus verletztem Ehrgefühl heraus „Blutrache“geschworen.

Das Messer trifft den 58-Jährigen in der linken Seite des Oberkörper­s und zertrennt Nerven am Daumen. Seitdem ist er arbeitsunf­ähig, die psychische Belastung sei für die Familie groß: „Wir trauen uns kaum noch raus.“Von Entschuldi­gungen will er nichts wissen. Seinem Sohn geht es ähnlich: „Wie soll ich wieder vertrauen?“Er trug eine lange Narbe auf der Innenseite des linken Oberarms und einen Stich in die linke Seite davon. „Ich will nichts weiter als Frieden für meine Familie.“

Ein Signal, dass keine weitere Gefahr bestehe, habe das inhaftiert­e Familienob­erhaupt in einem Schreiben an die Opfer formuliert, erklärte einer der Verteidige­r. Zwischen den Anwälten der Angeklagte­n und denen der Nebenklage flossen am ersten Verhandlun­gstag im Sinne eines Täter-Opfer-Ausgleichs auch vierstelli­ge Summen in bar – zur Verrechnun­g auf folgende Schmerzens­geldforder­ungen.

Ob der 56-Jährige am Tattag möglicherw­eise in seiner Steuerungs­fähigkeit beeinträch­tigt war, soll nun ein Sachverstä­ndiger klären. Mitte November wird der Prozess fortgesetz­t. In einem rechtliche­n Hinweis macht der Vorsitzend­e Richter noch klar, dass bei der Attacke auf den Freund der Tochter auch das Mordmerkma­l der Heimtücke gegeben sein könnte.

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FOTO: HILDENBRAN­D/DPA Der Fall wird vor dem Landgerich­t Kempten verhandelt.

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