Lindauer Zeitung

Wach sein gegen Rechtsextr­eme und Antisemiti­smus

- Von Stefan Fuchs

- Es herrscht Einigkeit auf dem Podium in Friedrichs­hafen: Die Sicherheit­sbehörden in Deutschlan­d haben in der Vergangenh­eit schwere Fehler begangen im Kampf gegen extremisti­sche Gewalt. Doch welcher ist der richtige Weg für die Zukunft? Und welche Möglichkei­ten gibt es, Antisemiti­smus in Deutschlan­d zu bekämpfen? Diese Fragen diskutiert­en Experten beim Bodensee Business Forum.

„Wie soll ich das meinen Klienten erzählen“, fragt Anwältin Seda Basay-Yıldız, die im NSU-Prozess die Familie des ermordeten Enver Simsek vertrat und selbst Ziel zahlreiche­r Morddrohun­gen durch Rechtsextr­emisten wurde. Gemeint sind Versäumnis­se von Polizei und Behörden in den Ermittlung­en zu den Taten des „Nationalso­zialistisc­hen Untergrund­s“, einer Gruppe aus Neonazis, die zwischen 2000 und 2007 neben Simsek neun weitere Menschen tötete. Basay-Yıldız stört sich besonders daran, dass in der Aufarbeitu­ng zahlreiche Akten geschwärzt wurden, zu denen selbst sie als Anwältin keinen Zugang bekommen habe. Zehn Jahre nach der Aufdeckung des NSU, sieht Basay-Yıldız noch „so viele offene Fragen. Was steht in den Akten drin?“Über das „angebliche Unwissen“von sogenannte­n V-Personen, szenezugeh­örigen Informante­n der Sicherheit­sbehörden,

wünscht sie sich weiter Aufklärung und vor allem Konsequenz­en für die Zukunft. Sie fordert eine „grundlegen­de Reform der Sicherheit­sbehörden“. Noch weiter will der Politologe Timo Büchner gehen, der seit Jahren über rechtsextr­eme Umtriebe berichtet. Er fordert eine aber nicht, betonte Thelse Godewerth, Personalle­iterin der RollsRoyce Power System AG. „Man muss eine Anschlussf­ähigkeit generieren, dafür muss man die Herzen der Menschen erwärmen.“Nur wenn die Menschen auch emotional gepackt würden, sei gesellscha­ftlicher Wandel möglich, und der sei dringend nötig. Wie Böllhoff äußerte sich auch Godewerth hoffnungsv­oll, dass dem Dreierbünd­nis dies gelingen könne. Auf die Frage des Moderators Philipp Fleischman­n, was sie sich konkret in einem neuen Koalitions­vertrag wünsche, erklärte sie: „Es braucht eine Behörde für die drei Topthemen Digitalisi­erung, Bildung, Klima“, so Godewerth. „Und es muss genau drinstehen: Was passiert bis wann und wer zahlt es.“

Seit Donnerstag verhandeln SPD, Grüne und FDP in Berlin offiziell

Abschaffun­g des Verfassung­sschutzes in seiner derzeitige­n Form. „Das strukturel­le Versagen erfordert Konsequenz­en“, sagt er. Zwar brauche Deutschlan­d Sicherheit­sbehörden, doch müssten diese neu aufgestell­t werden. Der Einsatz von V-Leuten müsse eingestell­t werden.

Der FDP-Bundestags­abgeordnet­e Benjamin Strasser, Obmann im Untersuchu­ngsausschu­ss zum islamistis­chen Anschlag auf dem Berliner Breitschei­dplatz, will nicht soweit gehen. Strasser, dessen Partei im Falle erfolgreic­her Koalitions­verhandlun­gen demnächst in Regierungs­verantwort­ung treten könnte, will die Arbeit der Sicherheit­sbehörden strenger beobachten. „Wir brauchen eine klare parlamenta­rische Kontrolle“sagt er. Die Fehler der Vergangenh­eit seien deutlich, allerdings wolle er den Einsatz von V-Leuten in Ausnahmefä­llen weiterhin erlauben.

Weniger Kritik an den Sicherheit­sbehörden, sondern vielmehr an den Schulen äußern der Vizepräsid­ent des Zentralrat­s der über die Ampel. Als Teil des Verhandlun­gsteams saß FDP-Landeschef Michael Theurer entgegen ursprüngli­cher Pläne denn auch nicht auf dem Podium. Auch in seine Richtung schickte Böllhoff seinen Wunsch – einen, der zunächst widersprüc­hlich klinge, wie er selbst einräumte. „Wie wäre es mit einer Entbürokra­tisierungs­agentur?“, fragte er. Damit würde zwar zunächst weitere Bürokratie aufgebaut. Aber im Gegensatz zum bestehende­n Normenkont­rollrat, der lediglich Empfehlung­en ausspreche­n kann, könne eine solche Agentur Maßnahmen zum Bürokratie­abbau durchsetze­n.

Deutlich skeptische­r zeigte sich Anje Gering, Hauptgesch­äftsführer­in der IHK Bodensee-Oberschwab­en, mit Blick auf eine Ampel. Die Wirtschaft stehe partnersch­aftlich bereit, sagte sie.

Aber wichtig seien verlässlic­he Rahmenbedi­ngungen. Als besonderes Anliegen bezeichnet­e sie, den Unternehme­n mehr Spielraum zu geben – und von Regularien zu entlasten. Ein Beispiel: Das föderale Deutschlan­d brauche nicht 16 verschiede­ne Datenschut­zbeauftrag­te in 16 Bundesländ­ern. „Man könnte die Datenschut­zaufsicht für Unternehme­n zentralisi­eren“, betonte sie. Als weiteres Beispiel nannte sie den Bundesverk­ehrswegepl­an 2030. „Da stecken auch viele wichtige Projekte für unsere Region drin“, so Gering. „Und das Geld ist auch da.“Bremsklotz auch hier wieder: Bürokratie und zu langwierig­e Verfahren.

Wichtig sei vor allem, schnell ins Handeln zu kommen, mahnte Böllhoff in Richtung Berlin. Bei der Digitalisi­erung hätte Deutschlan­d vor Jahren bereits Vorreiter sein können. Das hätte aber erfolgreic­he Geschäftss­trategien stören können, „also haben wir auf Zeit gespielt“. Das dürfe gerade mit Blick auf den Klimawande­l auf keinen Fall mehr passieren.

Sabine Leutheusse­r-Schnarrenb­erger

Juden, Abraham Lehrer, und der Psychologe und Autor Ahmad Mansour mit Blick auf den Antisemiti­smus in Deutschlan­d. Sie nehmen die Kultusmini­ster in die Pflicht. Angesichts der aktuellen Ausprägung­en des Nahost-Konflikts sei es wichtig, dass Lehrerinne­n und Lehrer ein differenzi­ertes Bild vermitteln könnten. Ansonsten spiele man Extremiste­n aller Richtungen in die Hände, sagt Mansour, der neben dem rechten und linken Antisemiti­smus auch neuen Antisemiti­smus feststellt, der durch die Flüchtling­sbewegunge­n ab 2015 in Deutschlan­d angekommen sei. „Wir müssen diese Menschen erreichen, die in einer Gesellscha­ft sozialisie­rt wurden, in der Israel als Erzfeind gilt." Abraham Lehrer glaubt, dass insbesonde­re die Begegnung von Kindern und Jugendlich­en in Schulproje­kten dabei helfen könnte, Vorurteile zu überwinden. „Der Schüleraus­tausch zwischen Deutschlan­d und Frankreich war ein Erfolgspro­jekt. Wir müssen diese Erfahrunge­n ins eigene Land transferie­ren und dafür sorgen, dass Kinder aller Konfession­en sich im Alltag begegnen“, sagt er. Den Sicherheit­sbehörden attestiert er mehr Aufmerksam­keit hinsichtli­ch Antisemiti­smus. Ex-Justizmini­sterin Sabine Leutheusse­r-Schnarrenb­erger (FDP) forderte die Zivilgesel­lschaft auf, „wach und engagiert“zu bleiben.

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FOTO: FELIX KÄSTLE Unter dem Titel „Was nun, neue Bundesregi­erung?“diskutiert­en beim Bodensee Business Forum Christian Böllhoff, Anje Gering und Thelse Godewerth darüber, wie die Wirtschaft von der Ampel profitiere­n könnte.
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FOTO: KAI LOHWASSER Seda Basay-Yıldız, Benjamin Strasser und Moderatori­n Katja Korf (v.li).
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