Wach sein gegen Rechtsextreme und Antisemitismus
- Es herrscht Einigkeit auf dem Podium in Friedrichshafen: Die Sicherheitsbehörden in Deutschland haben in der Vergangenheit schwere Fehler begangen im Kampf gegen extremistische Gewalt. Doch welcher ist der richtige Weg für die Zukunft? Und welche Möglichkeiten gibt es, Antisemitismus in Deutschland zu bekämpfen? Diese Fragen diskutierten Experten beim Bodensee Business Forum.
„Wie soll ich das meinen Klienten erzählen“, fragt Anwältin Seda Basay-Yıldız, die im NSU-Prozess die Familie des ermordeten Enver Simsek vertrat und selbst Ziel zahlreicher Morddrohungen durch Rechtsextremisten wurde. Gemeint sind Versäumnisse von Polizei und Behörden in den Ermittlungen zu den Taten des „Nationalsozialistischen Untergrunds“, einer Gruppe aus Neonazis, die zwischen 2000 und 2007 neben Simsek neun weitere Menschen tötete. Basay-Yıldız stört sich besonders daran, dass in der Aufarbeitung zahlreiche Akten geschwärzt wurden, zu denen selbst sie als Anwältin keinen Zugang bekommen habe. Zehn Jahre nach der Aufdeckung des NSU, sieht Basay-Yıldız noch „so viele offene Fragen. Was steht in den Akten drin?“Über das „angebliche Unwissen“von sogenannten V-Personen, szenezugehörigen Informanten der Sicherheitsbehörden,
wünscht sie sich weiter Aufklärung und vor allem Konsequenzen für die Zukunft. Sie fordert eine „grundlegende Reform der Sicherheitsbehörden“. Noch weiter will der Politologe Timo Büchner gehen, der seit Jahren über rechtsextreme Umtriebe berichtet. Er fordert eine aber nicht, betonte Thelse Godewerth, Personalleiterin der RollsRoyce Power System AG. „Man muss eine Anschlussfähigkeit generieren, dafür muss man die Herzen der Menschen erwärmen.“Nur wenn die Menschen auch emotional gepackt würden, sei gesellschaftlicher Wandel möglich, und der sei dringend nötig. Wie Böllhoff äußerte sich auch Godewerth hoffnungsvoll, dass dem Dreierbündnis dies gelingen könne. Auf die Frage des Moderators Philipp Fleischmann, was sie sich konkret in einem neuen Koalitionsvertrag wünsche, erklärte sie: „Es braucht eine Behörde für die drei Topthemen Digitalisierung, Bildung, Klima“, so Godewerth. „Und es muss genau drinstehen: Was passiert bis wann und wer zahlt es.“
Seit Donnerstag verhandeln SPD, Grüne und FDP in Berlin offiziell
Abschaffung des Verfassungsschutzes in seiner derzeitigen Form. „Das strukturelle Versagen erfordert Konsequenzen“, sagt er. Zwar brauche Deutschland Sicherheitsbehörden, doch müssten diese neu aufgestellt werden. Der Einsatz von V-Leuten müsse eingestellt werden.
Der FDP-Bundestagsabgeordnete Benjamin Strasser, Obmann im Untersuchungsausschuss zum islamistischen Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz, will nicht soweit gehen. Strasser, dessen Partei im Falle erfolgreicher Koalitionsverhandlungen demnächst in Regierungsverantwortung treten könnte, will die Arbeit der Sicherheitsbehörden strenger beobachten. „Wir brauchen eine klare parlamentarische Kontrolle“sagt er. Die Fehler der Vergangenheit seien deutlich, allerdings wolle er den Einsatz von V-Leuten in Ausnahmefällen weiterhin erlauben.
Weniger Kritik an den Sicherheitsbehörden, sondern vielmehr an den Schulen äußern der Vizepräsident des Zentralrats der über die Ampel. Als Teil des Verhandlungsteams saß FDP-Landeschef Michael Theurer entgegen ursprünglicher Pläne denn auch nicht auf dem Podium. Auch in seine Richtung schickte Böllhoff seinen Wunsch – einen, der zunächst widersprüchlich klinge, wie er selbst einräumte. „Wie wäre es mit einer Entbürokratisierungsagentur?“, fragte er. Damit würde zwar zunächst weitere Bürokratie aufgebaut. Aber im Gegensatz zum bestehenden Normenkontrollrat, der lediglich Empfehlungen aussprechen kann, könne eine solche Agentur Maßnahmen zum Bürokratieabbau durchsetzen.
Deutlich skeptischer zeigte sich Anje Gering, Hauptgeschäftsführerin der IHK Bodensee-Oberschwaben, mit Blick auf eine Ampel. Die Wirtschaft stehe partnerschaftlich bereit, sagte sie.
Aber wichtig seien verlässliche Rahmenbedingungen. Als besonderes Anliegen bezeichnete sie, den Unternehmen mehr Spielraum zu geben – und von Regularien zu entlasten. Ein Beispiel: Das föderale Deutschland brauche nicht 16 verschiedene Datenschutzbeauftragte in 16 Bundesländern. „Man könnte die Datenschutzaufsicht für Unternehmen zentralisieren“, betonte sie. Als weiteres Beispiel nannte sie den Bundesverkehrswegeplan 2030. „Da stecken auch viele wichtige Projekte für unsere Region drin“, so Gering. „Und das Geld ist auch da.“Bremsklotz auch hier wieder: Bürokratie und zu langwierige Verfahren.
Wichtig sei vor allem, schnell ins Handeln zu kommen, mahnte Böllhoff in Richtung Berlin. Bei der Digitalisierung hätte Deutschland vor Jahren bereits Vorreiter sein können. Das hätte aber erfolgreiche Geschäftsstrategien stören können, „also haben wir auf Zeit gespielt“. Das dürfe gerade mit Blick auf den Klimawandel auf keinen Fall mehr passieren.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Juden, Abraham Lehrer, und der Psychologe und Autor Ahmad Mansour mit Blick auf den Antisemitismus in Deutschland. Sie nehmen die Kultusminister in die Pflicht. Angesichts der aktuellen Ausprägungen des Nahost-Konflikts sei es wichtig, dass Lehrerinnen und Lehrer ein differenziertes Bild vermitteln könnten. Ansonsten spiele man Extremisten aller Richtungen in die Hände, sagt Mansour, der neben dem rechten und linken Antisemitismus auch neuen Antisemitismus feststellt, der durch die Flüchtlingsbewegungen ab 2015 in Deutschland angekommen sei. „Wir müssen diese Menschen erreichen, die in einer Gesellschaft sozialisiert wurden, in der Israel als Erzfeind gilt." Abraham Lehrer glaubt, dass insbesondere die Begegnung von Kindern und Jugendlichen in Schulprojekten dabei helfen könnte, Vorurteile zu überwinden. „Der Schüleraustausch zwischen Deutschland und Frankreich war ein Erfolgsprojekt. Wir müssen diese Erfahrungen ins eigene Land transferieren und dafür sorgen, dass Kinder aller Konfessionen sich im Alltag begegnen“, sagt er. Den Sicherheitsbehörden attestiert er mehr Aufmerksamkeit hinsichtlich Antisemitismus. Ex-Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) forderte die Zivilgesellschaft auf, „wach und engagiert“zu bleiben.