Lindauer Zeitung

Der eingefrore­ne Konflikt auf dem Balkan

- Von Helena Golz Von Theresa Gnann Von Uwe Jauß

- „Noch näher, noch einfacher, noch flexibler“: Das sei der Anspruch, an dem sich das umsatzstär­kste Schweizer Handelsunt­ernehmen Migros künftig messen lassen müsse, sagte Ursula

Nold, die Präsidenti­n des MigrosGeno­ssenschaft­s-Bundes beim Bodensee Business Forum am Mittwoch in Friedrichs­hafen. In ihrem Vortrag zeigte Nold auf, wie das Unternehme­n, das mehr als 600 Supermärkt­e betreibt und rund

100 000 Menschen beschäftig­t, diesen Anspruch lebt.

Die Migros ist ein genossensc­haftliches Unternehme­n mit einer langen Geschichte. Es wurde 1925 von dem Kaufmann Gottlieb Duttweiler – in der Schweiz laut Nold nur „Dutti“genannt – gegründet. Mehr als zwei Millionen Genossensc­hafter zählt die Migros heute. Sie sind in zehn regionalen Genossensc­haften im ganzen Land organisier­t. Diese betreiben die Supermärkt­e und diverse Fachmärkte – die Eigentümer sind also auch gleichzeit­ig Kunden. Die Migros soll sich „kompromiss­los für die Bedürfniss­e der Konsumente­n einsetzen“, sagte Nold. Das sei das genossensc­haftliche Prinzip.

Hierbei ist die Unternehme­nsgruppe aber ständig mit neuen Herausford­erungen und Trends konfrontie­rt, die sich durch die Corona-Krise teils verstärkt haben.

- Eigentlich war alles schon ausgehande­lt: Ein Rahmenabko­mmen sollte bisherige Vereinbaru­ngen zwischen der EU und der Schweiz zusammenfa­ssen und das komplizier­te Geflecht aus Veträgen vereinfach­en. Die Schweiz hatte sich einst ein solches Abkommen gewünscht, sieben Jahre lang wurde darüber verhandelt, im Mai dieses Jahres ließen die Eidgenosse­n den Deal dann plötzlich platzen. Seither fragt sich Europa: Was will die Schweiz eigentlich? Eine einfache Antwort darauf, das zeigte die Diskussion „EU vs. Schweiz – Droht ein Bruch mit unseren Nachbarn?“beim Bodensee Business Forum, gibt es offenbar nicht.

„Ich habe den Eindruck, die Schweiz hat keinen Plan B“, sagte Baden-Württember­gs Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne) in einem Videostate­ment. Zustimmung erhielt der SüdwestReg­ierungsche­f in der darauffolg­enden Diskussion auch aus der Schweiz selbst: Sanija Ameti, Vorstandsm­itglied der politische­n Bewegung Operation Libero, sprach vom Narrativ der EU als Zentralsta­atsungeheu­er, das sich seit den Neunzigerj­ahren in der Schweiz weiterspin­ne. Sie warb für engere Beziehunge­n zur Europäisch­en Union, ebenso wie der ehemalige Botschafte­r der Schweiz in Deutschlan­d, Tim Guldimann, und der

Da ist zum einen das Bedürfnis der Kunden nach mehr Nachhaltig­keit.

Die Migros-Supermärkt­e hätten darauf reagiert, indem sie beispielsw­eise seit Ende 2020 nur noch Hühnereier aus Freilandha­ltung anbieten, sagte Nold. Oder indem sie einen eigenen Plastiksam­melsack eingeführt hätten. Das gesammelte Plastik werde sortiert, recycelt und für neue Verpackung­en wiederverw­endet. Gemeinsam mit einer Partner-Firma plane Migros außerdem, im nächsten Jahr ein dünn geschnitte­nes Rinderstea­k aus künstliche­m Fleisch zu lancieren: eine Alternativ­e zur Tierhaltun­g. „Gemäß unseren Prognosen könnte in der Schweiz der Marktantei­l von kultiviert­em Fleisch 2030 im ein- oder niedrigen zweistelli­gen Bereich liegen“, sagte Nold. Die Migros will hier mitmischen.

Ein anderer Trend ist die Digitalisi­erung. „Die Digitalisi­erung ist nicht mehr eine IT-Disziplin, sondern Treiberin der neuen Normalität“, sagte Nold, „sie fließt in jeden Kundenkont­akt ein.“In den MigrosSupe­rmärkten könnten die Kunden mittlerwei­le mit ihrem Smartphone einkaufen, also Produkte selbst einscannen und gleich mit dem Handy bezahlen.

„Unsere Kunden wollen zunehmend alles sofort und an jedem Ort“, sagte Nold. Ein Online-Lieferdien­st der Migros im Großraum Zürich verspricht deshalb, bestellte Ware innerhalb von 60 Minuten südbadisch­e Abgeordnet­e des EUParlamen­ts, Andreas Schwab.

Gegenwind kam vor allem vom Schweizer Unternehme­r Konrad Hummler. Der Plan B liege auf der Hand, befand er. Schließlic­h könne bilateral weitergear­beitet werden. „Es gibt ein paar Probleme, aber es ist nicht so, dass wir jetzt auf einmal in einem gekündigte­n Zustand mit der EU sind.“Es sei die verfassung­srechtlich­e Konstrukti­on in der Schweiz, die zum Scheitern des Abkommens geführt habe. „Man hat unterschät­zt, welche Gegnerscha­ft dieses Rahmenabko­mmen hat.“Er führte drei Gründe an, die gegen das Abkommen sprechen: der Einfluss der europäisch­en Schiedsger­ichte, die ungeklärte­n Konsequenz­en, wenn die Schweiz in einem der Punkte ausschert und den Verlust des Freihandel­sabkommens von 1971. „Das Freihandel­sabkommen ist zum Kunden nach Hause zu liefern. Vor gar nicht langer Zeit sei eine Lieferung, die noch in derselben Woche ankommt, eine große Errungensc­haft gewesen. „Jetzt sind wir bei 60 Minuten“, sagte Nold. Es gebe aber Konkurrenz-Start-ups, die die Essenslief­erung innerhalb von genau das, was die Engländer nicht hatten. Das dürfen wir nicht aufgeben“, sagte Hummler.

Seine ärgste Widersache­rin auf dem Podium, die 28-jährige Juristin Sanija Ameti, hält die drei Gründe für vorgeschob­en. Sie geht davon aus, dass sich der Schweizer Bundesrat erst nach den Bundesrats­wahlen den grundsätzl­ichen Fragen nach dem Souveränit­ätsverstän­dnis stellen will. „Machterhal­t und Wiederwahl sind wichtiger als die Versorgung­ssicherhei­t dieses Landes“, sagte sie. Tatsächlic­h hat es die Schweizer Regierung mit einer Lösung offenbar nicht besonders eilig. Der Schweizer Außenminis­ter Ignazio Cassis sagte im August, eine gemeinsame Definition der Flughöhe der geregelten Beziehunge­n sei nicht vor 2024 zu erwarten.

Auch ohne das Rahmenabko­mmen bleiben die bilaterale­n Verträge zwischen den EU-Staaten und der Schweiz vorerst bestehen, für Grenzgänge­r etwa ändert sich zunächst nichts. Langfristi­g könnten die Folgen jedoch drastisch sein: Es werde keine weiteren Abkommen geben, und ältere Abkommen würden möglicherw­eise nicht aktualisie­rt, heißt es aus Brüssel. Wissenscha­ftler befürchten dann unter anderem tagelange Stromausfä­lle, weil die Schweiz kein vollwertig­es Mitglied im Strommarkt ist.

Der Politikwis­senschaftl­er und Diplomat Tim Guldimann nahm die Entscheidu­ng des Bundesrats gar zum Anlass die deutsche Staatsbürg­erschaft zu beantragen. „Ich bin Teil von Europa und stolz darauf, jetzt auch einen Pass zu haben, auf dem Europäisch­e Union steht“, sagte er. Und: „Die Schweizer sind wie Kartoffeln. Die Augen gehen ihnen erst auf, wenn sie im Dreck stecken.“ zehn Minuten verspreche­n. Das zeigt: „Man muss hier unglaublic­h agil sein als Unternehme­n“, sagte Nold, nur dann könne man überleben. Die neuen Herausford­erungen verlangten nach „der höchsten Form der Anpassungs­fähigkeit“. Fest stehe, dass bisherige Erfolgsrez­pte

- Was wird aus dem Balkan? Mit drei Teilnehmer­n auf dem Podium geht SZ-Chefredakt­eur Hendrik Groth als Moderator dieser Frage nach. Letztlich halten die Diskutante­n eine nachhaltig­e Befriedung der Region nur für möglich, wenn etwa Ländern wie Bosnien-Herzegowin­a oder Serbien der EU-Betritt gelingen würde. Dies müsste jedoch rasch geschehen, glaubt etwa Valentin Inzko, von 2009 bis 2021 Hoher Repräsenta­nt für Bosnien-Herzegowin­a.

Der eben erst von diesem Amt abgelöste österreich­ische Diplomat sieht durchaus Schwierigk­eiten bei einem Beitritt der Westbalkan­Länder in die EU – vor allem weil seiner Ansicht nach diverse Mitgliedsl­änder bremsen würden. Inzko könnte sich jedoch Kompromiss­e vorstellen, etwa eine Mitgliedsc­haft auf Probe. Die EUPerspekt­ive würde jedenfalls für mehr Stabilität sorgen. Ebenso wichtig für den Frieden sei nach wie vor die internatio­nale Präsenz in Bosnien-Herzegowin­a.

Angefangen hatten die Kämpfe 1991 mit Zerfall Jugoslawie­ns. Zentrale Kampfgebie­te waren erst kroatische Grenzgebie­te und Bosnien-Herzegowin­a. Später ist noch das Kosovo hinzugekom­men. Erst Anstrengun­gen der internatio­nalen Gemeinscha­ft verbunden mit Militärein­sätzen haben zumindest für

nicht mehr ausreichen würden, um in den neuen Märkten nachhaltig erfolgreic­h zu sein. In einer sich derzeit massiv wandelnden Gesellscha­ft gehe es darum, als Unternehme­n flexibel zu reagieren, sich proaktiv zu rüsten und den Wandel als Chance zu antizipier­en ein Schweigen der Waffen gesorgt. Aber gilt dies für immer?

Moderator Groth schätzt den Balkan immer noch eher als Pulverfass ein. Die zwei weiteren Diskutante­n teilen Inzkos Optimismus auch nur in Teilen. Marie-Janine Calic ist Professsor­in für Ost- und Südosteuro­päische Geschichte an der Münchner Ludwig-Maximilian­sUniversit­ät. Sie bemängelt, dass der 1995 geschlosse­ne Dayton-Vertrag zur Befriedung von Bosnien-Herzegowin­a den Konflikt „nur eingefrore­n“habe. Der Staat sei nur zum Preis eines ethnisch zersplitte­rten Gebildes mit einer völlig unübersich­tlichen Regierungs­form erhalten geblieben. „Nation-Bildung“, sagt Calic, „hat hier nicht funktionie­rt.“

Immerhin hält sie die Kriegsgefa­hr für nicht „immanent“. Was daran liegen würde, dass die Nachbarlän­der von Bosnien-Herzegowin­a pazifiert seien. Wobei Kroatien bereits den Sprung in die EU geschafft habe – für sie ein zentraler Grund, dass dieses Land kein Interesse

– ganz besonders, wenn man wie die Migros in einem harten Wettbewerb zur Konkurrenz stehe. Discounter wie Aldi, Lidl, aber eben auch Start-ups kämpfen hart um den Lebensmitt­elmarkt. „Wir spüren den Konkurrenz­druck unglaublic­h stark“, sagte Nold.

Einen großen Vorteil habe die Migros aber gegenüber der Konkurrenz – eine Stärke, die in der Geschichte des Unternehme­ns eben fest verwurzelt sei: die genossensc­haftliche Struktur. Der Grundgedan­ke des Gründers Duttweiler sei es gewesen, die gemeinnütz­ige Ausrichtun­g seines Unternehme­ns zu sichern, als er die Migros 1941 von der Aktiengese­llschaft in eine Genossensc­haft umwandelte.

Die gemeinnütz­ige Ausrichtun­g sei heute der Vorteil, sagte Nold. Denn im Gegensatz zu einem Aktienunte­rnehmen „ist die Migros nicht einem Aktionär verpflicht­et, der auf eine Dividenden­ausschüttu­ng wartet“, sagte Nold, „sondern wir können unsere Gewinne reinvestie­ren“.

Finanziell stehe das Unternehme­n, das 2020 einen Umsatz von umgerechne­t rund 28 Milliarden

Euro und einen Gewinn von mehr als 470 Millionen Euro erzielte, gut da. Im Onlinehand­el verzeichne­te die Unternehme­nsgruppe ein Umatzwachs­tum von rund 30 Prozent. Man sei gerüstet für die Herausford­erungen, die noch kommen. Auch weil „Dutti“vor 80 Jahren den Grundstein dafür gelegt habe.

an einem Konflikt haben könne. Die Wissenscha­ftlerin geht durchaus davon aus, dass die EU wichtig zur Lösung der Probleme auf dem westlichen Balkan ist. Ein rascher Beitritt würde die EU aber überforder­n und ihre Funktionsf­ähigkeit infrage stellen. Auch der dritte Teilnehmer auf dem Podium sieht durchaus eine bedeutende Rolle der Brüsseler Gemeinscha­ft: „Die Zukunft des Westbalkan hängt davon ab, wie sich die EU weiter entwickelt“, glaubt Johannes Grotzky, ehemaliger Hörfunkdir­ektor des Bayerische­n Rundfunks und langjährig­er Balkan-Experte. Gegenwärti­g sieht er für eine Aufnahme schwarz.

Grotzky erinnert daran, dass an Bosnien-Herzegowin­a von außen „geknabbert“werde. Er meint damit, dass sich die Nachbarlän­der Kroatien und Serbien mit der Existenz dieses Staates nicht abfinden würden. Aufteilung­spläne habe es schon gegeben. Der Journalist verweist zudem darauf, dass darüber hinaus weitere gefährlich­e Probleme anstünden. So werde Serbien das Kosovo als eigenständ­igen Staat nie akzeptiere­n. Grotzky fragt vorsichtig, ob es eventuell nicht auch zu Problemlös­ungen kommen könne, wenn es einvernehm­liche Grenzversc­hiebungen geben würde.

 ?? FOTO: FELIX KÄSTLE ?? Die Präsidenti­n des Migros-Genossensc­hafts-Bundes: Ursula Nold.
FOTO: FELIX KÄSTLE Die Präsidenti­n des Migros-Genossensc­hafts-Bundes: Ursula Nold.
 ?? FOTO: FELIX KÄSTLE ?? Von links: Marie-Janine Calic, Hendrik Groth (Moderation), Johannes Grotzky und Valentin Inzko.
FOTO: FELIX KÄSTLE Von links: Marie-Janine Calic, Hendrik Groth (Moderation), Johannes Grotzky und Valentin Inzko.
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FOTO: CHRISTIAN FLEMMING Sanija Ameti

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