Lindauer Zeitung

Prozess um Mord an Holocaust-Überlebend­er startet

85-Jährige in ihrer eigenen Wohnung getötet – Ankläger gehen von antisemiti­schem Motiv aus

- Von Christine Longin

- Am Dienstag beginnt in Paris der Prozess um den Mord an der Jüdin Mireille Knoll. Die Tat wirft ein Schlaglich­t auf den Antisemiti­smus in Frankreich.

Auf den kurzen Erinnerung­svideos, die es von Mireille Knoll gibt, ist eine dezent geschminkt­e Rentnerin lächelnd mit einem Glas in der Hand zu sehen. Am 23. März 2018 wurde der halb verbrannte Leichnam der 85-Jährigen mit elf Messerstic­hen in ihrer Wohnung im zweiten Stock eines Pariser Sozialbaus entdeckt.

Die mehrfache Oma war nicht reich, doch die beiden Männer, die als Täter infrage kommen, hatten es auf ihre Schmuckstü­cke und ihr Scheckheft abgesehen. Das Gespräch, das sie mit der Seniorin kurz vor deren Ermordung führten, soll sich um Geld gedreht haben. Um Juden und Geld, wie Alex C., einer der beiden Verdächtig­en, laut Zeitungsbe­richten aussagte. Mireille Knoll war Jüdin und als Kind der Deportatio­n in ein Vernichtun­gslager nur knapp entkommen.

Neben Alex C. muss sich ab Dienstag auch Yacine M. wegen der Gewalttat vor Gericht verantwort­en. Er kannte die an Parkinson erkrankte Knoll schon seit seiner Kindheit, denn seine Familie wohnte fünf Stockwerke über ihr. Wie eine Art Sohn habe sie ihn behandelt, berichtete­n Nachbarn nach der Tat. Yacine M., ein Muslim, verbrachte mehrere Monate wegen sexueller Gewalt gegen die Tochter von Knolls Pflegerin im Gefängnis. Dort lernte er Alex C. kennen, den er am Tag der Tat anrief, um ihm eine „Geldsache“anzubieten. Was danach passierte, ist bis heute nicht zu entziffern. Die beiden Männer beschuldig­ten sich gegenseiti­g des Mordes an der Witwe und korrigiert­en ihre Aussagen mehrfach.

Dass Yacine M. sich im Gefängnis von Fleury-Mérogis radikalisi­erte, steht in der Anklagesch­rift. Vor der Tat schaute er sich zudem antisemiti­sche Websites an. Alex C. will aus dem Mund von Yacine M. den Ruf „Allahu Akbar“gehört haben. Nach der Tat legten die beiden Männer Feuer, um Spuren zu verwischen. Sie flüchteten sich zur Mutter von M., die wohl auch die Klinge der Tatwaffe abwischte. Das 32 Zentimeter lange Küchenmess­er wurde später in der Wohnung von M.’s Bruder unter der Waschmasch­ine gefunden, wie die Zeitung „Le Parisien“berichtete.

Auch wenn Yacine M. einen antisemiti­schen Hintergrun­d abstreitet, hielten die Ermittlung­srichter 2020 das religiöse Motiv des Verbrechen­s fest. „Mord an einer verletzlic­hen Person, begangen aufgrund der Religion des Opfers“, lautet die Anklage, für die den beiden Männern lebenslang­e Haft droht. Nach der Tat gingen Zehntausen­de Menschen in Paris und anderswo gegen Rassismus und Antisemiti­smus auf die Straße. Sogar die Rechtspopu­listin Marine Le Pen, deren Vater mehrfach wegen Antisemiti­smus verurteilt worden war, und der Linksaußen Jean-Luc Mélenchon schlossen sich dem Schweigema­rsch an.

Bereits ein Jahr vor Knoll war in Paris eine jüdische Rentnerin ermordet worden. Sarah Halimi wurde im April 2017 von ihrem Angreifer nachts in ihrer Wohnung im Pariser Stadtteil Belleville misshandel­t und dann mit dem Ruf „Allahu Akbar“aus dem Fenster des dritten Stocks geworfen. Ein Berufungsg­ericht stufte den psychisch kranken Täter als nicht schuldfähi­g ein – eine Entscheidu­ng, die das Kassations­gericht trotz heftiger Proteste jüdischer Organisati­onen in diesem Frühjahr bestätigte.

Frankreich hat mit rund 500 000 Mitglieder­n die größte jüdische Gemeinde in Europa. Allerdings haben zahlreiche Jüdinnen und Juden in den vergangene­n Jahren nach einer Reihe antisemiti­scher Gewalttate­n das Land verlassen. Allein 2019, im letzten erfassten Jahr, wurden 687 antisemiti­sche Angriffe gezählt. Im Frühjahr wurden die Proteste gegen das Impfzertif­ikat von antisemiti­schen Tönen begleitet. So machte in Metz eine rechtsextr­eme Demonstran­tin auf einem Plakat Jüdinnen und Juden für die Corona-Pandemie verantwort­lich. Die Autorin, mit der sich andere solidarisi­erten, wurde vergangene Woche wegen öffentlich­en Aufrufs zum Rassenhass zu sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt.

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FOTO: CHRISTOPHE ENA/DPA Herzen und ein Foto kleben an der Tür zur Wohnung der 85-jährigen HolocaustÜ­berlebende­n Mireille Knoll, in der sie ermordet wurde.

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