Lindauer Zeitung

Horrornäch­te im Böhmerwald

45 Stunden suchten 1400 Menschen und 120 Hunde nach der achtjährig­en Julia – bis zum Happy End. Rekonstruk­tion des größten grenzüberg­reifenden Einsatzes an der deutsch-tschechisc­hen Grenze.

- Von Alexandra Hartmann

- Das Allradfahr­zeug der Bergwacht holpert über die Pfade des Böhmerwald­s hinauf zum Gipfel des Cerchovs. Die Bergungsli­ege im Kofferraum quietscht bei jeder Bodenwurze­l ohrenbetäu­bend. Dominik Schönberge­r lenkt den Wagen routiniert durch den Matsch. Obwohl er erst zwei Wochen zuvor stundenlan­g durch den Wald gefahren ist, muss er manchmal innehalten und sich orientiere­n.

Die dichten Bäume lassen die letzten Sonnenstra­hlen nicht durchdring­en, Nebelschwa­den kriechen den Hang hinauf. „Hier sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht“, sagt er – und trifft es damit auf den Punkt. Das hat ja alles so schwierig gemacht vor zwei Wochen. Für die achtjährig­e Julia, die nicht aus dem Wald fand. Und für 1400 deutsche und tschechisc­he Einsatzkrä­fte, die sie im Wald nicht fanden.

Es war Sonntag, 10. Oktober, als in der Oberpfalz alles begann und die Bergwacht Furth im Wald wegen einer Vermissten­suche alarmiert wurde. Auf die Meldung folgten 45 dramatisch­e Stunden bis zur erlösenden Nachricht. Dann: Kollektive­s Aufatmen, Passanten applaudier­ten, Medienberi­chte überschlug­en sich, Einsatzkrä­fte weinten vor Freude. Was ist in den zwei Tagen und Nächten passiert?

Das ist eine lange Geschichte, sagt Tobias Muhr vom Bayerische­n Roten Kreuz in Cham. Er hatte die Einsatzlei­tung beim BRK. Der 39Jährige hat ein Grinsen im Gesicht, das die Maske nicht verstecken kann. Jetzt, zwei Wochen später, kann er wieder lachen. Bevor es mit dem Wagen tief in den Wald geht, sitzen Muhr, der gleichaltr­ige Schönberge­r von der Bergwacht und vier Frauen der BRK-Hundestaff­el in ihren bunten Dienstjack­en in einem Besprechun­gsraum und rekonstrui­eren die größte grenzüberg­reifende Suchaktion in der Geschichte Bayerns und Tschechien­s.

Als die Leitstelle am frühen Sonntagabe­nd die Bergwacht Furth im Wald alarmierte, war zunächst von drei vermissten Kindern die Rede. Eine Familie aus Berlin hatte von Waldmünche­n aus auf den Cerchov wandern wollen. Die achtjährig­e Julia, ihr sechsjähri­ger Bruder und der neun Jahre alte Cousin waren dann beim Spielen gegen 17 Uhr plötzlich verschwund­en.

Einsatzlei­ter Schönberge­r fuhr mit zwei Bergwacht-Kameraden ins Gebiet. Suchaktion­en hat er schon viele erlebt – doch noch keine mit Kindern. Mountainbi­ker fanden die beiden Buben schnell. Von Julia aber fehlte jede Spur.

Um 18.40 Uhr, es war schon stockdunke­l und kalt, erhielten die Bergwachtl­er den Auftrag: Wanderwege absuchen. Schönberge­r forderte das LKLD-Fahrzeug an. Die Abkürzung steht für Lokalisati­on, Kommunikat­ion, Lagebeschr­eibung und Dokumentat­ion. Darin ist die komplette Ausrüstung für eine Vermissten­suche: Drohnen, GPS-Geräte, Funk und Co. Die Polizei ließ einen Hubschraub­er kommen. „Wir dachten, das reicht“, erzählt Schönberge­r. Doch dann meldete einer seiner Kameraden per Funk, dass auf tschechisc­her Seite ein riesiges Aufgebot an Einsatzkrä­ften anrückt.

Jetzt auf der Fahrt durchs Suchgebiet zeigt Schönberge­r auf ein Ortsschild: Althütten. Am Waldrand steht zwischen vereinzelt­en Wohnhäuser­n

eine kleine Hütte der Bergwacht. Hier war zu Beginn die Einsatzzen­trale, sagt er. Zu dem Zeitpunkt sei noch nicht klar gewesen, wie groß die Suchaktion wird – und was gerade auf tschechisc­her Seite passiert.

Auf deutscher Seite kreisten in den Abendstund­en Hubschraub­er und Drohnen mit Wärmebildk­ameras über den Wald. Doch das dichte Blätterdac­h des Böhmerwald­es versperrte jegliche Sicht von oben und machte die moderne Technik nutzlos. Es blieb keine andere Möglichkei­t, als die Suche auf den Waldboden zu verlagern.

Um 22.20 Uhr ging die Meldung über die Alarm-App bei den Mitglieder­n der BRK-Hundestaff­el ein, erinnert sich Anna Köck von der Hundestaff­el Straubing-Bogen. Zwischen 23 und 23.30 Uhr kamen die Helferinne­n und Helfer mit ihren Hunden im Suchgebiet an.

Der Kriseninte­rventionsd­ienst des Landkreise­s Cham kümmerte sich um Julias Familie. Ihr Vater war noch lange vor Ort und beantworte­te Fragen. Schönberge­r beschreibt ihn als gefasst. Auf tschechisc­her Seite, so hieß es, suchten Menschenke­tten das Gebiet ab.

„Jeder große Einsatz beginnt mit einer Chaosphase“, erklärt BRKMann Muhr. Bei grenzübers­chreitende­n Aktionen dauere diese länger. Für Muhr stand im Vordergrun­d, diese Phase zu beenden und die Einsätze beider Länder zusammenzu­bringen. Gegen Mitternach­t wurde die Einsatzzen­trale deshalb auf den Gipfel des Cerchovs verlagert. Muhr organisier­te eine Dolmetsche­rin des BRK als „Sprachrohr“zwischen den Beteiligte­n. „Dann hatten wir die Übersicht.“

Nach langem Geholper über Wurzelwege kommt plötzlich ein breiterer Teerweg. „Im Sommer fahren hier sogar Busse rauf“, sagt Schönberge­r. Kaum zu glauben, ist an diesem nebligen Nachmittag unter der Woche doch keine Menschense­ele unterwegs. Dann lichtet sich der Wald und der Blick schweift über das Gipfelplat­eau. Mit 1042 Metern über dem Meeresspie­gel ist der Cerchov – zu

Deutsch Schwarzkop­f – die höchste Erhebung in der Region auf tschechisc­her Seite.

Markant sind zwei Türme, die schon von Weitem erkennbar sind. Einen nutzte das DDR-Ministeriu­m für Staatssich­erheit als Abhörstati­on. Heute dient er der Flugsicher­ung und ist nicht begehbar. Gegenüber steht ein Aussichtst­urm, von dem man, das beteuert Schönberge­r, bei schönem Wetter bis zu den Alpen sieht. Schwer vorstellba­r, da sich das ganze Tal unter einer dicken Nebeldecke verbirgt. „Hierher wurde die Einsatzzen­trale verlegt“, sagt der Bergwachtl­er und geht ein paar Schritte. Sofort erkennt man durch den Nebel nur noch die rot-blaue Jacke der Bergwacht.

„In der ersten Nacht hatten die Hunde Priorität“, sagt Muhr. Anna Köck, die Einsatzlei­terin der Hundestaff­el, erklärt, dass Mantrailer und Flächensuc­hhunde nach Julia suchten. Die Mantrailer bekommen eine Geruchspro­be und spüren diese im Gelände auf. Flächensuc­hhunde laufen ohne Leine und reagieren auf jede menschlich­e Witterung. Die Hunde seien so hilfreich, da sie die Vergangenh­eit „sehen“, also ob Julia durch das Gebiet geirrt ist. Es wurden Teams gebildet: je ein Hund mit Hundeführe­rin und Helfer. „Wir haben noch einen Guide von der Bergwacht mitbekomme­n“, sagt Köck. Jedes Team erhielt ein Suchgebiet, das auf ein GPS-Gerät gespielt wurde.

Nach einer Weile müssen sich die Hunde ausruhen, erzählt Christina Artmann von der Straubinge­r Hundestaff­el, die mit ihrer Labradorhü­ndin Maja dabei war. Schließlic­h ist das Gelände sehr anspruchsv­oll: dichte Bäume, unebener Untergrund, Felsen und steile Hänge. Dazu kam die Temperatur. Das Thermomete­r sank laut Schönberge­r auf minus vier Grad; „scho’ schattig“, wie es der Bergwachtl­er ausdrückt. Durch den dunklen Wald schallten Rufe nach Julia – doch die Antwort blieb aus. Die dichten Blätter schlucken Schall, sodass sie ihren Namen vielleicht gar nicht hörte, wo immer sie auch war.

Dann wurde es im Gipfelbere­ich zu eng. Am frühen Montagmorg­en zog die Einsatzzen­trale ein weiteres Mal um: in die Zollhalle bei Schafberg, direkt an der Grenze. Muhr organisier­te die „Unterstütz­ungsgruppe Sanitätsei­nsatzleitu­ng“– ein „fahrendes Büro“. Darin wurden weitere Einsatzkrä­fte organisier­t, was den Überblick erleichter­te.

Um 8 Uhr bildeten Feuerwehrk­räfte aufgrund einer Hundespur im Fichtenbac­htal eine Menschenke­tte. Um 10 Uhr traf eine Hundertsch­aft der bayerische­n Bereitscha­ftspolizei ein. Da Julia weiterhin verscholle­n blieb, alarmierte Köck 35 weitere Hundestaff­eln aus ganz Bayern, damit kein Leerlauf entsteht. Schlimmste­nfalls wären die Leute umsonst angereist, sagt sie und fügt an: „Wenn es um ein kleines Kind geht, nimmt man das in Kauf.“

Der Einwand ruft wieder in Erinnerung: Es war ein achtjährig­es Mädchen allein im Wald. Es hatte weder Essen noch Trinken. Und auch keine wärmende Kleidung. Schon auf Erwachsene wirkt der Wald in der Dunkelheit bedrohlich. Wie muss es da erst einem Kind ergehen? Auf die Frage, wie sich die Beteiligte­n in der Situation fühlten, kehrt im Raum kurz Ruhe ein. „Die Befürchtun­g war von Anfang an groß“, sagt Muhr. Schon nach der ersten Nacht arbeiteten alle mit der Sorge, dass es für die kleine Julia bei der Kälte kritisch werden könnte. „Es war jedoch nie ein Thema, dass die Suche aufgegeben wird.“

Der Wald riecht nach Herbst. Aber nicht nach dem sonnigen, bei dem man einen Spaziergan­g machen möchte. Sondern nach nassem Holz und totem Laub. Jeder Schritt verlangt Konzentrat­ion. Unter der Laubdecke verbergen sich Stolperfal­len; Äste und Zweige behindern den Weg und stechen ins Gesicht. Kaum auszumalen, dass ganze Menschenke­tten dieses Gebiet durchkämmt­en. Die Ketten wurden rechts und links von jeweils einem Bergwacht-Führer mit GPSSystem begleitet, erklärt Schönberge­r. So wurde im Wald Stück für Stück jeder Stein umgedreht. Doch auch in der zweiten Nacht, in der es zu allem Überfluss auch noch regnete, tauchte Julia nicht auf.

Dienstagmo­rgen lag eine Glocke der Betroffenh­eit über der Einsatzhal­le. „Mit jeder Nacht, die vergangen ist, ist das Gefühl gesunken, dass das Ganze gut ausgeht“, beschreibt Tobias Muhr. Emotional habe sich jeder Helfer nach der zweiten Nacht darauf eingestell­t, das Mädchen tot zu finden.

In einer kurzen Pause daheim hat Dominik Schönberge­r seinen zehnjährig­en Sohn gefragt, was er in der Situation machen würde. Er habe geantworte­t, dass er sich aus Angst verstecken würde. So ging es auch Julia, wie später aus Polizeiber­ichten hervorgeht. Nachts habe sie sich gefürchtet und nicht auf sich aufmerksam gemacht.

Während in der Einsatzzen­trale neue Kräfte zugeteilt wurden, durchsucht­e ein tschechisc­her Förster am Mittag in Absprache mit der Einsatzlei­tung ein Gebiet knapp außerhalb des offizielle­n Suchradius. Martin Semecky und seine Kollegen kamen zu einer Lichtung. Plötzlich sah er ein Mädchen vor sich. Julia. „Sie saß etwa zehn Meter weit weg im hohen Gras“, erzählte der 31-Jährige später. Er sei überwältig­t vom Glück, das kleine Mädchen gefunden zu haben. Als er ihren Namen sagte, habe die Achtjährig­e nur langsam genickt. Er wickelte das völlig unterkühlt­e

Kind in seine Jacke und trug es zum Auto.

Dass Julia lebend gefunden wurde, erfuhr Tobias Muhr aus den sozialen Medien. Er versuchte, die Meldung zu verifizier­en. Es dauerte etwa 20 Minuten. „Das war eine sehr lange Zeit“, sagt er rückblicke­nd. Gegen 14 Uhr bestätigte der Polizeispr­echer die gute Nachricht. „Das kann man ruhig zugeben: Da sind Tränen geflossen“, sagt Muhr. Die Polizei informiert­e die Eltern. Julia war bereits im Krankenwag­en. Muhr klärte am Telefon die Frage, in welches deutsche Krankenhau­s sie gebracht werden soll.

Als die Entscheidu­ng gefallen war und er auflegte, fuhr bereits ein tschechisc­her Krankenwag­en mit Blaulicht an ihm vorbei. „Da habe ich es wirklich realisiert“, erinnert er sich an diesen emotionale­n Moment. „Ich war erschöpft, aber glücklich“, wirft Christina Artmann von der Hundestaff­el ein. Und ihre Kollegin Anna Köck fügt hinzu: „Man hat gemerkt, was man gemeinsam schaffen kann.“

Bis 16 Uhr waren alle aus der Einsatzzen­trale verschwund­en. Julia wurde im Krankenhau­s langsam aufgewärmt. Bis auf einen Kratzer am Bein habe sie keine Verletzung­en erlitten, berichtet die Polizei. Schon einen Tag später wurde sie entlassen.

Dass die Achtjährig­e ohne Essen und Trinken 45 Stunden in der

Kälte überlebte, bezeichnen viele als Wunder. Gegenüber der Polizei erzählte sie, dass sie immer in Bewegung war und mehrere Kilometer lief. Zu ihrem Fundort hätte sie auf direktem Weg schon mehr als zwei Stunden benötigt. Etwa einen Kilometer entfernt liegt eine Quelle mit Trinkwasse­r, die sie jedoch nicht gefunden habe. Nachts habe sie im hohen Gras geschlafen und Tiere wie Rehe, Füchse und ein Wildschwei­n gesehen.

Und wie geht es ihr jetzt? Besucht sie schon wieder die Schule? Das Polizeiprä­sidium Oberpfalz macht aus Gründen des Persönlich­keitsschut­zes keine näheren Angaben.

Julias Familie lasse ausrichten, dass sie überglückl­ich sei und sich bei allen Helferinne­n und Helfern bedanke.

Tobias Muhr wünscht ihr jedenfalls, dass sie das Ganze gut verarbeite­t. Er stellt sich vor, dass sie eines Tages als Erwachsene von dem einen Urlaub in Bayern erzählen wird, der etwas blöd gelaufen ist.

Anna Köck, Einsatzlei­terin

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FOTO: DRK Tobias Muhr

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