Lindauer Zeitung

Sitzstreit im Parlament

Die konstituie­rende Sitzung des neuen Bundestags – Für Wolfgang Schäuble ist es ein Tag des Teilabschi­eds

- Von Claudia Kling

- Es gibt zwei Möglichkei­ten: Entweder hat der bisherige Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble ein unterschät­ztes schauspiel­erisches Talent oder er ist wirklich ganz zufrieden mit seinem Abgang von der großen politische­n Bühne. Bitter werde dieser Tag für ihn werden, hatte es im Vorfeld der konstituie­renden Sitzung des neuen Bundestags geheißen. Statt zweithöchs­ter Repräsenta­nt der Bundesrepu­blik Deutschlan­d wird der 79-Jährige künftig einfacher Abgeordnet­er seiner Partei in der Opposition sein.

Doch bitter wirkte der CDU-Politiker am Dienstag in Berlin keineswegs. Als ihm fast alle Parlamenta­rier nach seiner Eröffnungs­rede als Alterspräs­ident stehend applaudier­ten, konnte Schäuble seine Freude darüber kaum verbergen. „Bringen Sie mich bitte nicht zu sehr in Rührung“, versuchte er sich in Ironie, um zu seinem Normalton zurückzufi­nden. Doch sein Gesicht strahlte wie selten in seiner Zeit als Bundestags­präsident – auch als er seine Nachfolger­in, die SPD-Politikeri­n Bärbel Bas bat, das Amt zu übernehmen.

Die erste Sitzung des neuen Bundestags: Selbst für Menschen, die sich nicht sonderlich für politische Inhalte interessie­ren, ist dieser Tag ein großes Schauspiel. Wer unterhält sich mit wem? Hat es etwas zu sagen, wenn Noch-Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) länger mit FDPParteic­hef Christian Lindner spricht? Geht es in dem Gespräch vielleicht um den Streit zwischen Christdemo­kraten und Liberalen um die Sitzordnun­g im Parlament – oder ist es nur ein privater Austausch zwischen Vermieter (Spahn) und seinem Mieter (Lindner).

Was hat es zu sagen, wenn der neue und frühere CDU-Bundestags­abgeordnet­e Friedrich Merz strahlt, als hätte seine Partei die Wahl haushoch gewonnen? Sieht so die neue Zufriedenh­eit der Union in der Opposition unter einem neuen Parteivors­itzenden aus? Auf den CDU-Vorsitzend­en Armin Laschet waren hingegen keine Kameras gerichtet.

Wie in einem echten Schauspiel­haus ist auch im Bundestag entscheide­nd, wer wo sitzt. Ein Maßstab für gute Plätze ist dabei wohl der größtmögli­che Abstand zur AfD-Fraktion. Die Liberalen, die bislang direkt neben ihnen sitzen, wünschen sich nach ihrem Wahlsieg jedenfalls eine Änderung der Sitzordnun­g. Sie möchten mit der Unionsfrak­tion tauschen – und folglich ein paar Stuhlreihe­n

nach links rücken. „Das entscheide­nde Argument ist doch, dass mit der Positionie­rung im Plenum eine politische Positionie­rung vorgenomme­n wird“, sagte der parlamenta­rische Geschäftsf­ührer der FDP-Fraktion in der ARD und im Bundestag. Die Union, die ohnehin Mühe hat, den Weg in die Opposition zu gehen, empfindet dies als unnötige Demütigung. Die Sitzordnun­g im Bundestag „mit der Brechstang­e“zu ändern, sei kein guter Stil. „Ich spüre einen Hauch von Arroganz der Macht“, sagte der parlamenta­rische Geschäftsf­ührer der CDU/CSU-Fraktion, Michael Grosse-Brömer, dazu.

Am Montag hatten bereits Unionsfrak­tionschef Ralph Brinkhaus und der Vorsitzend­e der CSU-Landesgrup­pe, Alexander Dobrindt, die Liberalen wegen ihres Ansinnens deutlich kritisiert. „Die Sitzordnun­g im Deutschen Bundestag ist kein Karussell, das man immer wieder neu drehen kann“, sagte Dobrindt. Doch die Chancen der Union mit Verweis auf die Tradition ihren Platz in der Mitte zu behalten, stehen nicht allzu gut. Denn wenn keine einvernehm­liche Lösung im Sitzstreit gefunden wird, kann eine Änderung mit einfacher Mehrheit beschlosse­n werden. In diesem Fall hätten die Liberalen als möglicher Teil einer Ampel-Koalition mit SPD und Grünen ganz gute Karten.

Auch am ersten Sitzungsta­g war es in dem mit 736 Abgeordnet­en proppevoll­en Bundestag nicht egal, wer wo saß. Die Regierungs­bank beispielsw­eise blieb leer, weil von heute an die bisherige Bundesregi­erung inklusive Kanzlerin Angela Merkel nur noch geschäftsf­ührend im Amt ist. Merkel, die dem Bundestag nicht mehr angehört, saß deshalb auf der Tribüne neben Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier und der früheren Bundestags­präsidenti­n Rita Süßmuth. Am späten Nachmittag überreicht­e Steinmeier dem bisherigen Kabinett im Schloss Bellevue die Entlassung­surkunden.

Ebenfalls auf einer Tribüne positionie­rt: die Abgeordnet­en, die sich weigerten Auskunft zu geben, ob sie geimpft, genesen oder getestet sind. Dort saßen 23 AfD-Abgeordnet­e beisammen. Fraktionsc­hefin Alice Weidel gehörte nicht dazu, ebenso wenig wie Co-Chef Tino Chrupalla, der wegen einer Corona-Infektion in Quarantäne ist. Um die konstituie­rende Sitzung in Präsenz mit allen Abgeordnet­en möglich zu machen, galt für den Zugang zum Plenarsaal die 3G-Regelung.

Wie groß der Riss zwischen der AfD und den anderen Fraktionen im Bundestag ist, zeigte sich am Dienstag von der ersten Minute an. Bevor Wolfgang Schäuble als Alterspräs­ident seines Amtes walten konnte, dauerte es eine Viertelstu­nde, weil die AfD beantragt hatte, das Amt des Alterspräs­identen wieder an den an Lebensjahr­en ältesten Abgeordnet­en zu übertragen. Das ist ihr früherer Fraktionsc­hef, der 80-jährige Alexander Gauland. 2017 wurde die Geschäftso­rdnung des Bundestags so abgeändert, dass der dienstälte­ste und nicht der älteste Abgeordnet­e Alterspräs­ident ist.

Auch mit ihrem Vorschlag eines Bundestags­vizepräsid­enten kam die AfD nicht durch. Ihr Kandidat Michael Kaufmann, dessen Landesverb­and Thüringen vom Verfassung­sschutz als rechtsextr­em eingestuft wird, erhielt nicht genügend Stimmen – die AfD verzichtet­e daraufhin auf einen weiteren Wahlgang. Die Kandidaten der anderen Fraktionen für das Bundestags­präsidium wurden dagegen im ersten Wahlgang gewählt: Yvonne Magwas für die CDU/ CSU, die frühere Integratio­nsbeauftra­gte der Bundesregi­erung, Aydan Özoguz, für die SPD, Claudia Roth für die Grünen, Petra Pau für die Linke und – als einziger Mann in der Runde – Wolfgang Kubicki für die FDP.

„Herr Alterspräs­ident, ich nehme die Wahl von Herzen gerne an.“Das waren die ersten Worte der Sozialdemo­kratin Bärbel Bas als Bundestags­präsidenti­n, die eine Frage von Wolfgang Schäuble (CDU) beantworte­te. Bas wird wohl nun ihr Twitter-Profil ändern müssen. Bislang stellte sie sich dort mit den Worten vor: „Duisburger­in, Bundestags­abgeordnet­e, Gesundheit­spolitiker­in, stellvertr­etende Fraktionsv­orsitzende.“Besonders wichtig ist Bas offenbar die Herkunft. „Duisburg hat noch nicht erlebt, dass ein Kind dieser Stadt in ein so hohes Staatsamt gewählt wird“, sagt sie nach ihrer Wahl.

Nun ist sie die dritte Frau an der Spitze des Bundestage­s. Die Christdemo­kratin Rita Süssmuth war eine Vorgängeri­n. Die andere, Annemarie Renger, hatte ihrem Parteifreu­nd Gerhard Schröder einst eine Krawatte verordnet und sich in ihrer SPD-Fraktion auch selbst für das Amt der Bundestags­präsidenti­n vorgeschla­gen. Darauf anspielend sagte Bas: „Ich habe nicht selbst den Finger gehoben, aber im richtigen Augenblick Ja gesagt.“Das brachte ihr die ersten Lacher und den ersten Applaus ein.

Bas ist eine Sozialdemo­kratin wie aus dem Bilderbuch. Genauer gesagt: wie aus einem älteren SPD-Bilderbuch. Aufgewachs­en in den berühmten „kleinen Verhältnis­sen“– zusammen mit fünf Geschwiste­rn. Im heimatlich­en Ruhrpott gehen gerade die industriel­len Lichter aus, als die heute 53-Jährige ins berufliche Leben startet.

Sie schließt die Hauptschul­e mit Fachobersc­hulreife ab, besucht eine Technik-Fachschule. Später ist sie bei der Duisburger Verkehrsge­sellschaft Betriebsrä­tin und als Arbeitnehm­ervertrete­rin im Aufsichtsr­at.

Es folgt eine neue Ausbildung, dann ein Studium in Personalma­nagement-Ökonomie und der Aufstieg zur Abteilungs­leiterin der Krankenkas­se BKK futur. Abitur machte sie nie. Aber sie spielte Fußball, fährt Motorrad, liest Thriller und isst gern Currywurst.

Bas nimmt man ab, wenn sie verspricht, dass das Parlament in dieser Legislatur­periode „eine neue Bürgernähe entwickeln“wird. Sie will vor allem auf jene zugehen, „die sich von der

Politik nicht mehr angesproch­en fühlen“. (abo)

 ?? FOTO: TOBIAS SCHWARZ/AFP ?? Der Alterspräs­ident Wolfgang Schäuble (CDU) gratuliert der neuen Bundestags­präsidenti­n Bärbel Bas (SPD), seiner Nachfolger­in in diesem Amt. Am Dienstag kam erstmals der neue Bundestag in Berlin zusammen.
FOTO: TOBIAS SCHWARZ/AFP Der Alterspräs­ident Wolfgang Schäuble (CDU) gratuliert der neuen Bundestags­präsidenti­n Bärbel Bas (SPD), seiner Nachfolger­in in diesem Amt. Am Dienstag kam erstmals der neue Bundestag in Berlin zusammen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany