Wie eine Tettnangerin bei der Lebensgeschichte hilft
Die Heilerziehungspflegerin und Autorin Carolin Schaaf hat ein Buch verfasst, das jeder selbst schreiben kann
- Wenn am Ende nur noch ein Foto bleibt, über das niemand mehr etwas weiß, dann verschwindet der Mensch dahinter mit seinen Träumen, Wünschen und Erfahrungen. Die Tettnangerin Carolin Schaaf will etwas dagegen setzen. Sie hat als Heilerziehungspflegerin ein Schlüsselerlebnis gehabt, aus dem ein Buch geworden ist. Darin kann jeder Mensch die eigene Lebensgeschichte für andere oder auch für sich selbst aufschreiben. „Mein Lebensbuch“heißt das Werk, das im Hospizverlag erschienen ist.
Im Grunde hat sie den Bedarf dafür in ihrem professionellen Umfeld erkannt. In einer Wohngruppe, in der sie gearbeitet hatte, fragte eine 67jährige Bewohnerin mit Down-Syndrom nach den Geschichten von Verstorbenen, deren Bilder an einem Traueraltar platziert waren. Bei einem Foto musste Schaaf passen, weil dieser Mensch gestorben war, bevor sie in der Gruppe angefangen hatte. Da sagte sie sich, dass das doch nicht
TRAUERANZEIGEN sein könne: „Es muss mehr von einem Menschen zurückbleiben als ein Foto.“Das ließ ihr keine Ruhe.
In Nachtstunden ist daraufhin das Buch entstanden, in dem nun entweder die Menschen selbst, Angehörige oder Wegbegleiter das Leben festhalten können. Es gliedert sich in die vier Kapitel Kindheit, Erwachsenwerden, Älterwerden sowie das Lebensende und darüber hinaus. Auf 70 Seiten sind Fragen gestellt oder Stichworte gedruckt wie: „Meine Haustiere, Kuscheltiere und was mir sonst in meiner Kindheit wichtig war“, über das Kennenlernen des Partners und welche schönen Erlebnisse es mit den eigenen Kindern gab bis hin zu dem Punkt, welche Lebenserfahrungen einen heute noch beschäftigen oder wie man in Erinnerung bleiben möchte.
Das können natürlich auch Eltern jeweils für ihre Kinder oder Ehepartner untereinander ausfüllen und erzählen. Das Werk geht also über den ursprünglichen Entstehungsgrund hinaus. Carolin Schaaf etwa will selbst drei Bücher schreiben. Weil das, was sie ihrem Mann hinterlassen möchte, doch etwas anderes ist als das, was sie ihren Töchtern sagen möchte. Und, sagt sie: „Es besteht ja auch keine Pflicht, alle Felder auszufüllen.“
Im Bereich der Betreuung oder der Pflege indes kann das Werk auch einen professionellen Zweck haben, wenn die Autorin oder der Autor des eigenen Lebensbuchs das möchte und zulässt. Das können einfache
Dinge sein. Etwa, dass man kein Käsebrot mag. Aber es können auch Erklärungen sein, dass etwa bestimmte Berührungen gar nicht gehen, weil es vielleicht mal eine traumatische Erfahrung gab. Weil eben auch private Sachen darin stünden, sei es wichtig, von vornherein zu klären, wer das Buch lesen dürfe und auch, was später damit passieren solle, sagt Carolin Schaaf. Dabei habe sie festgestellt, dass über das gemeinsame Gespräch oft ein besseres Verständnis füreinander entstehe – das Buch könne in diesem Sinne auch als Stichwortgeber dienen, um beispielsweise den eigenen Kindern den Lebensweg und seine Auswirkungen besser erklären zu können.
Und das Buch könne auch eine wichtige Hilfestellung für die Zukunft geben. „Was möchtest Du mal“, sagt Schaaf, das sei eine wichtige Frage auch gerade mit Blick aufs Lebensende. Sie selbst habe es bei ihrer eigenen Patientenverfügung erlebt, „dass man sich selbst dann erst mal richtig kennenlernt“. Bei Menschen mit Behinderung bekomme sie immer wieder mit, dass diese beispielsweise oft nicht im Krankenhaus sterben wollten. Auch der Glaube oder Nicht-Glaube spiele bei vielen Fragen eine große Rolle.
Im professionellen pflegerischen Umfeld ist die sogenannte Biografiearbeit ein wichtiges Instrument, um Menschen angemessen versorgen zu können. Das Wissen um eine traumatische Erfahrung, die in bestimmten Situationen zu Angst führt, hilft, Auslöser
zu vermeiden. Umgekehrt gilt das natürlich auch für die Kenntnis angenehmer Situationen, in denen Bewohner sich gern bewegen. Das ist etwas sehr Individuelles. Doch Angehörige oder Freunde bekommen davon teils nichts mit. Auch daran soll das Buch etwas ändern können.
Was das Werk helfen kann, sieht Schaaf gerade in einem Fall, bei dem eine Frau ihre Zimmernachbarin verloren hat, die zugleich auch ihre beste Freundin war. „Wir sprechen miteinander und füllen das Buch gemeinsam aus“, sagt Schaaf. Das sei in diesem Fall ein wichtiges Element der Trauerbegleitung geworden. Anwendungsmöglichkeiten sieht sie auch im Bereich der Hospizdienste oder auch bei allen anderen Ehrenamtlichen, die begleitend tätig sind. Damit am Ende etwas übrig bleibt, was über ein Foto hinausgeht.
Das Buch „Mein Lebensbuch“ist beim Hospizverlag unter der ISBN 978-3-9465274-0-4 erschienen und kostet 24,99 Euro.