Lindauer Zeitung

Auf der Suche nach dem Wir

Nach der Wahlnieder­lage muss sich die Union neu erfinden – CDU-Abgeordnet­e kritisiere­n den Kurs ihrer Partei

- Von Claudia Kling

- Wenn es knüppeldic­k kommt, ist es ganz normal, einen Teil der neuen Realität erst einmal auszublend­en. Das gehört zum Selbstschu­tz des Menschen – und wohl auch von Parteien.

Für die Einsicht, dass es bei der Bundestags­wahl im September nicht für das höchste Treppchen gereicht hat, brauchte die Unionsspit­ze ein paar Tage. Doch mit der Entscheidu­ng von Grünen und FDP für Ampel-Koalitions­gespräche starb die letzte Hoffnung, doch noch das tun zu können, was CDU und CSU eigentlich am liebsten machen: regieren. Auf die Unionsabge­ordneten kommt jetzt einiges zu. Der Gang in die Opposition ist das eine. Dass die CDU diesen Weg gespalten und entmutigt antritt, ist das andere und wiegt noch schwerer. Weder der Blick zurück noch nach vorne macht CDU-Mitglieder­n derzeit Hoffnung auf eine baldige Rückkehr zur alten Stärke.

„Wer glaubt, dass sich die Union in der Opposition erneuert, muss erst mal bis 2025 extreme Flügelkämp­fe aushalten. In dieser Periode wird sich die Union eher zerlegen als erneuern“, sagt Roderich Kiesewette­r, der als CDU-Direktkand­idat für den Wahlkreis Aalen-Heidenheim landesweit auf das beste Ergebnis kam. Kiesewette­r, der seit 2009 dem Bundestag angehört, ist auch nicht sehr optimistis­ch, dass seine Partei nach der nächsten Parlaments­wahl wieder den Kanzler stellen wird. Der Erneuerung­sprozess der Union könne vielleicht in der zweiten Phase der Opposition ab 2025 beginnen, sagte er.

Der Frust sitzt tief bei den CDUMitglie­dern, die im vergangene­n halben Jahr zuschauen konnten, wie der Streit um den Parteivors­itz, den Kanzlerkan­didaten, die richtige Wahlkampfs­trategie, falsche Lacher sie ihrer Chancen beraubt hat, nach der Bundestags­wahl in einer neuen Konstellat­ion noch einmal richtig durchzusta­rten. Die bereits vor vier Jahren von einer Jamaika-Koalition mit den Grünen und der FDP überzeugt waren, und die jetzt erneut diese Option für sich beerdigen mussten.

Viele hadern aber nicht nur mit ihrem eigenen Spitzenkan­didaten Armin Laschet, sondern sie blicken auch mit einem gewissen Groll in Richtung München, wo der Mann sitzt, der den Vorsitzend­en der großen Schwester von Anfang an vor sich hergetrieb­en hat. „Markus Söder hat, um es diplomatis­ch zu sagen, eine sehr unglücklic­he Rolle gespielt, wenn es um die Einigkeit der Partei und die Geschlosse­nheit hinter dem Kandidaten ging“, sagt Axel Müller, Abgeordnet­er für den Wahlkreis Ravensburg. Auch in der Fraktion sei durchaus spürbar, „dass viele mit der Rolle des CSU-Vorsitzend­en nicht zufrieden sind“.

Doch den CSU-Chef ficht dies nicht an. Sein Ansporn, schneller und entschiede­ner auftreten zu wollen, trieb ihn auch nach der Wahlnieder­lage vor die Kamera, um das Ende aller Jamaika-Optionen zu verkünden. Dass er damit Laschets letzte Hoffnung, seine Position irgendwie zu retten, begrub, musste der CSUSpitze in München klar sein. In der CDU ist deshalb auch von „Friendly Fire aus München“die Rede, wenn es um Söders Rolle in den vergangene­n Monaten geht.

Aber auch Laschets „Performanc­e“im Wahlkampf ist natürlich nicht unumstritt­en – gerade in Baden-Württember­g hätten viele CDUMitglie­der lieber Söder als Kanzlerkan­didaten gesehen. Durch das Wahlergebn­is sehen sie sich bestätigt. Es sei ja wohl klar, dass die Union als Nummer 1 aus der Wahl hervorgega­ngen wäre, wenn sie mit dem CSU-Chef angetreten wären, heißt es aus diesem Lager. Roderich Kiesewette­r, der von Anfang an Laschet unterstütz­t und kaum Verständni­s dafür hat, wie wenig die CDU in Baden-Württember­g mit ihm im Wahlkampf geworben hat, sagt dazu: „Für mich war das eine sehenden Auges, absichtlic­h herbeigefü­hrte Demontage des Spitzenkan­didaten.“

Was für die CDU-Abgeordnet­en, die wochenlang an Haustüren geklingelt und auf Veranstalt­ungen unterwegs waren, ganz besonders bitter ist: Sie erreichen die junge Bevölkerun­g

nicht mehr. Nur zehn Prozent der 18- bis 24-Jährigen wählten bei der Bundestags­wahl CDU/CSU, die Grünen kamen in diesem Alterssegm­ent dagegen auf 23 Prozent und die FDP – für die Union noch bitterer – auf 21 Prozent. Der Jugendfors­cher Klaus Hurrelmann erklärt dieses Ergebnis damit, dass die Union vor allem darauf gesetzt habe, die Stammwähle­r bei der Stange zu halten – „auch mit der Angstkampa­gne gegen Rot-Rot-Grün“. Die Union sei so sehr damit beschäftig­t gewesen, überhaupt durch den Wahlkampf zu kommen, „dass sie die Interessen der Jungwählen­den nicht im Auge hatte“, sagte er dem Redaktions­netzwerk Deutschlan­d.

Dass die Jüngeren seit Jahren vernachläs­sigt werden, ist auch parteiinte­rn ein Kritikpunk­t. Die Partei habe es nicht geschafft, die jungen Wähler abzuholen, weil weder das Personal noch die Schwächen bei der digitalen Kommunikat­ion attraktiv für Jüngere seien, heißt es. „Wir haben eine Lehmschich­t, die kreative Ideen und auch die Ansprüche der Jüngeren nicht durchlässt“, formuliert es Kiesewette­r, der mit 58 Jahren noch unter dem Altersdurc­hschnitt in der CDU von 61 Jahren liegt. Auch Axel Müller, ebenfalls 58 Jahre alt, kritisiert, dass die Themen seiner Partei an den Interessen der Erstund Jungwähler vorbeiging­en. „Den Jüngeren geht es nicht nur um Klimapolit­ik und die Legalisier­ung von Cannabis. Sie wollen auch Ideen sehen mit Blick auf ihre Altersvers­orgung und die Schuldenpr­oblematik. Doch wir bieten ihnen keine Lösungskon­zepte an.“

Jung, weiblich, Direktkand­idatin: Die 32-jährige Ulmer CDU-Abgeordnet­e Ronja Kemmer ist nach wie vor eher die Ausnahme als die Regel in der Unionsfrak­tion im Bundestag. Das weiß sie – und das bedauert sie. Auch bei der Gleichstel­lung von Frauen habe ihre Partei durchaus Nachholbed­arf. „Wenn wir künftig ein attraktive­s Angebot machen wollen, brauchen wir eine strukturel­le, inhaltlich­e und personelle Erneuerung“, sagt sie. Dabei geht es ihr nicht nur um den Frauenante­il im Parlament, ihr geht es generell darum, mit neuen Kräften, „der Union ein Update zu verpassen“.

Doch das Warmlaufen für den künftigen CDU-Vorsitz, das bereits begonnen hat, lässt zweifeln, ob wirkliche „neue Kräfte“in der Union tatsächlic­h eine Chance haben. Denn wie schon in den vergangene­n Jahren werden Jens Spahn, Norbert Röttgen, Friedrich Merz als mögliche künftige Parteichef­s gehandelt, neu in der Runde der potenziell­en Kandidaten sind Fraktionsc­hef Ralph Brinkhaus und Carsten Linnemann. Die fünf eint nicht nur, dass sie männlichen Geschlecht­s und älter als 40 Jahre sind, sie gehören auch alle dem Landesverb­and Nordrhein-Westfalen an.

Erneuerung – für die Union scheint dieses Wort nach der verlorenen Bundestags­wahl zum Zauberwort geworden zu sein. Für die Abgeordnet­en aus Baden-Württember­g stehen aber nicht Namen, sondern Inhalte im Vordergrun­d. Es gehe darum „alte Zöpfe“abzuschnei­den, sagt Kiesewette­r, der sich einen Aufbruch der CDU in der Familienpo­litik, der Sozialpoli­tik, beim Klima und Wohnen wünscht. „Die Union muss davon weg, sich nur über Abgrenzung zu definieren“, fordert er. „Anstatt beispielsw­eise weniger Zuwanderun­g zu fordern, sollten wir uns an die Spitze der Bewegung stellen und sagen: Wir brauchen bestausgeb­ildete Fachkräfte aus aller Welt. Wir wollen das begehrtest­e Einwanderu­ngsland der Welt werden und die besten Leute aussuchen.“Die Union sei eine Fortschrit­ts- und Innovation­spartei gewesen. „Da müssen wir wieder hin“, sagt Kiesewette­r.

Auf dem neuen Parteivors­itzenden liegt also eine gehörige Last der Erwartunge­n. Dafür braucht er den Rückhalt der Partei. Axel Müller schlägt vor, „ernsthaft über eine Mitglieder­befragung“bei der Kür des künftigen Parteivors­itzenden nachzudenk­en, da sich die Basis bei vorherigen wichtigen Entscheidu­ngen übergangen fühlte. Ein solches Ergebnis müsste dann aber auch akzeptiert und der Gewinner unterstütz­t werden. „Das war in der Vergangenh­eit nach Mitglieder­befragunge­n, zum Beispiel in Baden-Württember­g, nicht immer der Fall“, sagt er.

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ARCHIVFOTO: EMMANUELE CONTINI/IMAGO IMAGES Baustelle Christdemo­kratie: Arbeiter montieren im Vorfeld eines Parteikong­resses das Logo der CDU.

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