Auf der Suche nach dem Wir
Nach der Wahlniederlage muss sich die Union neu erfinden – CDU-Abgeordnete kritisieren den Kurs ihrer Partei
- Wenn es knüppeldick kommt, ist es ganz normal, einen Teil der neuen Realität erst einmal auszublenden. Das gehört zum Selbstschutz des Menschen – und wohl auch von Parteien.
Für die Einsicht, dass es bei der Bundestagswahl im September nicht für das höchste Treppchen gereicht hat, brauchte die Unionsspitze ein paar Tage. Doch mit der Entscheidung von Grünen und FDP für Ampel-Koalitionsgespräche starb die letzte Hoffnung, doch noch das tun zu können, was CDU und CSU eigentlich am liebsten machen: regieren. Auf die Unionsabgeordneten kommt jetzt einiges zu. Der Gang in die Opposition ist das eine. Dass die CDU diesen Weg gespalten und entmutigt antritt, ist das andere und wiegt noch schwerer. Weder der Blick zurück noch nach vorne macht CDU-Mitgliedern derzeit Hoffnung auf eine baldige Rückkehr zur alten Stärke.
„Wer glaubt, dass sich die Union in der Opposition erneuert, muss erst mal bis 2025 extreme Flügelkämpfe aushalten. In dieser Periode wird sich die Union eher zerlegen als erneuern“, sagt Roderich Kiesewetter, der als CDU-Direktkandidat für den Wahlkreis Aalen-Heidenheim landesweit auf das beste Ergebnis kam. Kiesewetter, der seit 2009 dem Bundestag angehört, ist auch nicht sehr optimistisch, dass seine Partei nach der nächsten Parlamentswahl wieder den Kanzler stellen wird. Der Erneuerungsprozess der Union könne vielleicht in der zweiten Phase der Opposition ab 2025 beginnen, sagte er.
Der Frust sitzt tief bei den CDUMitgliedern, die im vergangenen halben Jahr zuschauen konnten, wie der Streit um den Parteivorsitz, den Kanzlerkandidaten, die richtige Wahlkampfstrategie, falsche Lacher sie ihrer Chancen beraubt hat, nach der Bundestagswahl in einer neuen Konstellation noch einmal richtig durchzustarten. Die bereits vor vier Jahren von einer Jamaika-Koalition mit den Grünen und der FDP überzeugt waren, und die jetzt erneut diese Option für sich beerdigen mussten.
Viele hadern aber nicht nur mit ihrem eigenen Spitzenkandidaten Armin Laschet, sondern sie blicken auch mit einem gewissen Groll in Richtung München, wo der Mann sitzt, der den Vorsitzenden der großen Schwester von Anfang an vor sich hergetrieben hat. „Markus Söder hat, um es diplomatisch zu sagen, eine sehr unglückliche Rolle gespielt, wenn es um die Einigkeit der Partei und die Geschlossenheit hinter dem Kandidaten ging“, sagt Axel Müller, Abgeordneter für den Wahlkreis Ravensburg. Auch in der Fraktion sei durchaus spürbar, „dass viele mit der Rolle des CSU-Vorsitzenden nicht zufrieden sind“.
Doch den CSU-Chef ficht dies nicht an. Sein Ansporn, schneller und entschiedener auftreten zu wollen, trieb ihn auch nach der Wahlniederlage vor die Kamera, um das Ende aller Jamaika-Optionen zu verkünden. Dass er damit Laschets letzte Hoffnung, seine Position irgendwie zu retten, begrub, musste der CSUSpitze in München klar sein. In der CDU ist deshalb auch von „Friendly Fire aus München“die Rede, wenn es um Söders Rolle in den vergangenen Monaten geht.
Aber auch Laschets „Performance“im Wahlkampf ist natürlich nicht unumstritten – gerade in Baden-Württemberg hätten viele CDUMitglieder lieber Söder als Kanzlerkandidaten gesehen. Durch das Wahlergebnis sehen sie sich bestätigt. Es sei ja wohl klar, dass die Union als Nummer 1 aus der Wahl hervorgegangen wäre, wenn sie mit dem CSU-Chef angetreten wären, heißt es aus diesem Lager. Roderich Kiesewetter, der von Anfang an Laschet unterstützt und kaum Verständnis dafür hat, wie wenig die CDU in Baden-Württemberg mit ihm im Wahlkampf geworben hat, sagt dazu: „Für mich war das eine sehenden Auges, absichtlich herbeigeführte Demontage des Spitzenkandidaten.“
Was für die CDU-Abgeordneten, die wochenlang an Haustüren geklingelt und auf Veranstaltungen unterwegs waren, ganz besonders bitter ist: Sie erreichen die junge Bevölkerung
nicht mehr. Nur zehn Prozent der 18- bis 24-Jährigen wählten bei der Bundestagswahl CDU/CSU, die Grünen kamen in diesem Alterssegment dagegen auf 23 Prozent und die FDP – für die Union noch bitterer – auf 21 Prozent. Der Jugendforscher Klaus Hurrelmann erklärt dieses Ergebnis damit, dass die Union vor allem darauf gesetzt habe, die Stammwähler bei der Stange zu halten – „auch mit der Angstkampagne gegen Rot-Rot-Grün“. Die Union sei so sehr damit beschäftigt gewesen, überhaupt durch den Wahlkampf zu kommen, „dass sie die Interessen der Jungwählenden nicht im Auge hatte“, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.
Dass die Jüngeren seit Jahren vernachlässigt werden, ist auch parteiintern ein Kritikpunkt. Die Partei habe es nicht geschafft, die jungen Wähler abzuholen, weil weder das Personal noch die Schwächen bei der digitalen Kommunikation attraktiv für Jüngere seien, heißt es. „Wir haben eine Lehmschicht, die kreative Ideen und auch die Ansprüche der Jüngeren nicht durchlässt“, formuliert es Kiesewetter, der mit 58 Jahren noch unter dem Altersdurchschnitt in der CDU von 61 Jahren liegt. Auch Axel Müller, ebenfalls 58 Jahre alt, kritisiert, dass die Themen seiner Partei an den Interessen der Erstund Jungwähler vorbeigingen. „Den Jüngeren geht es nicht nur um Klimapolitik und die Legalisierung von Cannabis. Sie wollen auch Ideen sehen mit Blick auf ihre Altersversorgung und die Schuldenproblematik. Doch wir bieten ihnen keine Lösungskonzepte an.“
Jung, weiblich, Direktkandidatin: Die 32-jährige Ulmer CDU-Abgeordnete Ronja Kemmer ist nach wie vor eher die Ausnahme als die Regel in der Unionsfraktion im Bundestag. Das weiß sie – und das bedauert sie. Auch bei der Gleichstellung von Frauen habe ihre Partei durchaus Nachholbedarf. „Wenn wir künftig ein attraktives Angebot machen wollen, brauchen wir eine strukturelle, inhaltliche und personelle Erneuerung“, sagt sie. Dabei geht es ihr nicht nur um den Frauenanteil im Parlament, ihr geht es generell darum, mit neuen Kräften, „der Union ein Update zu verpassen“.
Doch das Warmlaufen für den künftigen CDU-Vorsitz, das bereits begonnen hat, lässt zweifeln, ob wirkliche „neue Kräfte“in der Union tatsächlich eine Chance haben. Denn wie schon in den vergangenen Jahren werden Jens Spahn, Norbert Röttgen, Friedrich Merz als mögliche künftige Parteichefs gehandelt, neu in der Runde der potenziellen Kandidaten sind Fraktionschef Ralph Brinkhaus und Carsten Linnemann. Die fünf eint nicht nur, dass sie männlichen Geschlechts und älter als 40 Jahre sind, sie gehören auch alle dem Landesverband Nordrhein-Westfalen an.
Erneuerung – für die Union scheint dieses Wort nach der verlorenen Bundestagswahl zum Zauberwort geworden zu sein. Für die Abgeordneten aus Baden-Württemberg stehen aber nicht Namen, sondern Inhalte im Vordergrund. Es gehe darum „alte Zöpfe“abzuschneiden, sagt Kiesewetter, der sich einen Aufbruch der CDU in der Familienpolitik, der Sozialpolitik, beim Klima und Wohnen wünscht. „Die Union muss davon weg, sich nur über Abgrenzung zu definieren“, fordert er. „Anstatt beispielsweise weniger Zuwanderung zu fordern, sollten wir uns an die Spitze der Bewegung stellen und sagen: Wir brauchen bestausgebildete Fachkräfte aus aller Welt. Wir wollen das begehrteste Einwanderungsland der Welt werden und die besten Leute aussuchen.“Die Union sei eine Fortschritts- und Innovationspartei gewesen. „Da müssen wir wieder hin“, sagt Kiesewetter.
Auf dem neuen Parteivorsitzenden liegt also eine gehörige Last der Erwartungen. Dafür braucht er den Rückhalt der Partei. Axel Müller schlägt vor, „ernsthaft über eine Mitgliederbefragung“bei der Kür des künftigen Parteivorsitzenden nachzudenken, da sich die Basis bei vorherigen wichtigen Entscheidungen übergangen fühlte. Ein solches Ergebnis müsste dann aber auch akzeptiert und der Gewinner unterstützt werden. „Das war in der Vergangenheit nach Mitgliederbefragungen, zum Beispiel in Baden-Württemberg, nicht immer der Fall“, sagt er.