Lindauer Zeitung

Bernhard Schlinks anrührende­s Plädoyer für den Austausch

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Kurz nach Ende der Frankfurte­r Buchmesse erscheint ein Roman, auf den sicher viele gewartet haben: „Die Enkelin“von Bernhard Schlink. Nach seinem Ausflug ins Bühnenfach mit „20. Juli“legt der Bestseller­autor und frühere Verfassung­srichter seinen Roman „Die Enkelin“vor. Darin wählt der 77-Jährige einen Schauplatz, den er bestens kennt: Ostdeutsch­land damals und heute. Schlinks zehnter Roman ist das Porträt einer Ex-DDR-Bürgerin und einer völkischen Nachwendef­amilie, aber auch ein Roadmovie, eine Coming-of-Age-Geschichte und das Psychogram­m eines Mannes, der auf den Spuren seiner verstorben­en Frau auf Unerwartet­es trifft.

Kaspar (71) findet seine Frau Birgit, der er als Student 1965 zur Flucht aus der DDR verhalf, tot in der Badewanne. Ihre große Liebe und der Traum von Glück und schriftste­llerischem Erfolg war über die Jahre verblasst. Doch Kaspar entdeckt ein Manuskript: kein Roman, sondern Birgits eigene Geschichte – und die ihrer Tochter, die sie noch in der DDR direkt nach der Geburt weggab und die sie ihr Leben lang suchen wollte.

Irritiert und verletzt macht sich Kaspar selbst auf den Weg. Er findet die längst erwachsene Tochter Svenja, ihren Mann Björn und die 14-jährige Sigrun: in einer völkischen Siedlung in Mecklenbur­g. Svenja, verhärtet durch die Zeit im DDR-Jugendgefä­ngnis Torgau und in der rechten Szene, hat kein Interesse an dem unbekannte­n Stiefvater. Doch Björn wittert die Chance auf ein Erbe. „Ich werde“, denkt Kaspar, „deine Gier ausnutzen und Svenja kennenlern­en und Sigrun kennenlern­en und alles herausfind­en, was Birgit hätte herausfind­en wollen.“

Für jeweils 25 000 Euro verbringt Sigrun von nun an die Hälfte ihrer Ferien beim neuen Stief-Großvater. Kaspar geht mit ihr ins Konzert, in die Oper und ins Museum, bringt ihr Literatur und Musik näher. Das Mädchen ist klug und interessie­rt, schlägt ihn im Schach und beweist Talent auf dem Flügel der Großmutter. Doch nennt sie den Holocaust und das Tagebuch der Anne Frank Fälschunge­n, verehrt Rudolf Hess und äußert rassistisc­he Ressentime­nts. In ihrem Dorf sei ein Dönerstand „abgefackel­t“worden: „Die beiden waren Afrikaner und Muselmänne­r. Die brauchen wir nicht.“

Kaspar lässt sich seine Bestürzung nicht anmerken, sondern will ohne Belehrunge­n über ihre Ansichten sprechen. Seine Bemühungen scheinen Früchte zu tragen. Doch dann kommt es zum Bruch mit der Familie. Erst nach zwei Jahren steht Sigrun wieder vor seiner Tür: Sie hat sich einer rechten Kampfgrupp­e angeschlos­sen und ist in schwere Straftaten verstrickt. Der Großvater will seiner Enkelin aus der Klemme helfen, es zeichnet sich eine Lösung ab. Doch am Ende geht Sigrun ihren eigenen Weg.

Man merkt dem Roman deutlich an, dass Autor Schlink, der in Berlin studierte und lehrte und seit Jahrzehnte­n auch dort lebt, Befindlich­keiten im alten und neuen Ostdeutsch­land begegnet ist. So lässt er Birgit beschreibe­n, wie sie sich anfangs im Westen fühlte: „Dass ich geflüchtet war, hätte ich besser verschwieg­en; oft wurde ich nicht nur herablasse­nd, sondern ein bisschen verächtlic­h behandelt, als sei ich verwöhnt und würde auf Kosten der anderen gehätschel­t und gepäppelt.“

Schlink kennt aus eigenen „Wende“-Erfahrunge­n den „deutsch-deutschen Liebesfrüh­ling der ersten Monate, die Hoffnung auf ein anderes, besseres Deutschlan­d, die wechselsei­tigen Enttäuschu­ngen, westliche Arroganz und östliche Bitterkeit, erfolgreic­he und gescheiter­te wendegezei­chnete Biografien“. Die Wiedervere­inigung bleibe „eine große Freude“. Doch die entstanden­e Vielfalt sei manchmal schwierig. „Je besser wir einander wahrnehmen, uns mitteilen und austausche­n, desto bereichern­der ist sie.“Schlinks Roman „Die Enkelin“ist ein Plädoyer für diesen Austausch, über 30 Jahre nach der Wende. (KNA)

Bernhard Schlink: Die Enkelin. Diogenes, 368 Seiten, 25 Euro.

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FOTO: CHRISTOPH HARDT/IMAGO IMAGES Bernhard Schlink 2019 bei einer Lesung.

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