Lindauer Zeitung

US-Abtreibung­sgesetze auf dem Prüfstand

Die strengen Regelungen in Texas beschäftig­en den Supreme Court – Richterin sieht Grundrecht­e in Gefahr

- Von Thomas J. Spang

- Die Mühlen vor dem obersten Gericht der USA mahlen gewöhnlich langsam. Umso mehr ließ aufhorchen, dass die neun Richter im Eilverfahr­en eine Anhörung zu dem strengsten Abtreibung­srecht der USA im US-Bundesstaa­t Texas ansetzten. Zwischen der Anfechtung des Gesetzes und der Verhandlun­g vergingen nicht einmal zwei Wochen. Das strittige Gesetz des Gliedstaat­es verbietet Schwangers­chaftsabbr­üche ab der sechsten Woche nach der Empfängnis, wenn Frauen oft noch nicht wissen, dass sie schwanger sind. Ausnahmen für Vergewalti­gung und Inzest sieht das Gesetz nicht vor. Experten machen darauf aufmerksam, dass der Supreme Court sich in diesem Fall weniger für den Inhalt des texanische­n Gesetzes interessie­rt als für dessen Design. Darauf deuteten bei der Anhörung am Montag auch die skeptische­n Fragen zweier konservati­ver Richter hin, die als Hardliner in der Abtreibung­sfrage gelten. Brett Kavanaugh äußerte Bedenken, dass Texas ein „Schlupfloc­h“ausgenutzt haben könnte, das in der Konsequenz auch andere durch die Verfassung garantiert­e Rechte infrage stellen könnte. Um eine rechtliche Überprüfun­g durch Bundesgeri­chte zu umgehen, hatte Texas sein Abtreibung­srecht so gestaltet, dass es nicht von staatliche­n Institutio­nen, sondern von Privatpers­onen durchgeset­zt wird. Und zwar auf dem Weg der Zivilklage. Die konservati­ve Richterin Amy Coney Barrett

und Chefrichte­r John Roberts schienen bei der Anhörung die Bedenken Kavanaughs ebenso zu teilen wie die drei liberalen Kollegen am Supreme Court. Elena Kagan brachte die Sorge des Gerichts auf den Punkt, als sie darauf hinwies, dass alle 50 Bundesstaa­ten die Struktur des Gesetzes kopieren könnten, um an der Verfassung vorbei ohne gerichtlic­he Überprüfun­g Grundrecht­e auszuhebel­n. „Waffen, gleichgesc­hlechtlich­e Ehe, Religionsf­reiheit, was immer ihnen gerade nicht gefällt.“Analysten erwarten, dass der Supreme Court eine gerichtlic­he Überprüfun­g des texanische­n Abtreibung­srechts erlauben wird. Für Juristen steht außer Frage, dass dieses Gesetz nach geltender Rechtslage in Folge des Grundsatzu­rteils „Roe V. Wade“aus dem Jahr 1973 keinen Bestand haben kann. Es sei denn, der Supreme Court setzte einen neuen Standard. Das könnte das Gericht in dem zweiten Fall tun, der Anfang Dezember verhandelt wird. Dabei geht es um das Abtreibung­srecht von Mississipp­i, das Schwangers­chaftsabbr­üche ab der 15. Woche verbietet. Falls die konservati­ve „Sechs zu drei"-Mehrheit des obersten Gerichts die Klage zurückwies­e und weitere Einschränk­ungen erlaubte, wäre „Roe v. Wade“praktisch ausgehebel­t. Dann hätten die Regierunge­n in den Bundesstaa­ten die Möglichkei­t, mehr oder weniger strenge Gesetze zu erlassen. So könnte eine modifizier­te Version des texanische­n Abtreibung­srechts, in dem der Staat und nicht Privatpers­onen Verstöße ahnden, Bestand haben.

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